Kaum irgendwo in der Politik wird so gelogen wie in der EU-Hauptstadt Brüssel. Und nie ist die Versuchung zur Lüge größer als während einer der dort regelmäßig aufflackernden Spesen- und Korruptionsskandale. Die EU-Maschinerie ist in so verwirrender Weise konstruiert, dass - um Jacques Delors zu zitieren - selbst gebildete Bürger ihr kaum folgen können. Darum müssen Eurokraten und Europaabgeordnete damit leben, dass die Bürger nur schwer verstehen, wie am Sitz der EU-Institutionen Entscheidungen fallen und wer was tut.
Aber die Kompliziertheit dieses Machtapparates hat für die EU-Maschinisten auch einen unschätzbaren Vorteil: Wer als Insider die Unwahrheit sagt, der geht kaum ein Entdeckungsrisiko ein. Weil kaum ein Bürger mitbekommt, um was es geht. Und weil auch manche Brüsseler Zeitungskorrespondenten mit der Materie offenkundig überfordert sind.
Das ist zum Beispiel gut für jemanden wie Martin Schulz, den SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl am 7.Juni. Der durfte sich in der Affäre um den zweifelhaften Pensionsfonds des EU-Parlaments im staatlichen Deutschlandradio und anderen Medien als scharfer Kritiker dieses um etwa 120 Millionen Euro defizitären Rententopfs präsentieren - obwohl Schulz in den Jahren zuvor immer wieder als energischer Verteidiger des Fonds aufgetreten war.
Auch die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer, die als Agrarierin und Liebhaberin von Gen-Mais bekannt ist, versucht sich neuerdings als Kritikerin des Fonds. Gleichzeitig verschweigt sie die unbestreitbare Tatsache, dass sie selbst jahrelang Mitglied in dem Pensionsverein war – zumindest in den Jahren 1999 bis 2002. Ist sie vielleicht sogar heute noch im Fonds? Sommer äußerte sich nicht, als der stern im Februar anfragte.
Stattdessen veröffentlichte die Christdemokratin auf ihrer Website eine Presseerklärung, die von der hohen Phantasiebegabung der Politikerin zeugt. Ob’s auch am Gen-Mais liegt?
Jedenfalls greift sie einen Redakteur der "WAZ" - offenbar zu Recht - wegen kleinerer Irrtümer in einem Artikel an. Und sie erklärt diese Falschbehauptungen damit, dass der Kollege "unter geradezu sträflicher Vernachlässigung der eigenen Recherchepflicht auf ebenso haltlose Unterstellungen eines 'stern'-Redakteurs" zurückgegriffen habe.
Mit dem stern-Redakteur bin wohl ich gemeint. Tatsächlich hatte der Mann von der "WAZ" behauptet, Abgeordnete hätten einen Teil ihrer Fondsbeiträge aus ihrer so genannten Sekretariatspauschale bezahlt. Tatsächlich war es bis September 2008 offizielle Politik des Europaparlaments, den angeblichen Eigenanteil der Abgeordneten von ihrer Bürokostenpauschale abzuziehen - ohne je zu kontrollieren, ob Abgeordnete wie Sommer diese Summe selbst wieder ersetzten. Das hatten wir wahrheitsgemäß im stern geschrieben. Der Tageszeitungskollege hatte dann wohl die beiden Pauschalen - Sekretariat einerseits, Bürokosten andererseits - durcheinander gebracht.
Das war ein Fehler, aber ein vernachlässigbarer gegenüber den Märchen, die die Abgeordnete Sommer spinnt. Der umstrittene Fonds sei ursprünglich eingerichtet worden, behauptete die Politikerin, um diejenigen EU-Parlamentarier zu unterstützen, die anders als deutsche Abgeordnete keinen Anspruch auf Pension aus ihrem Heimatland hätten.

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Da erzählte Sommer groben Unfug. Für die von ihr erwähnten Abgeordneten - aus Frankreich und Italien - richtete das EU-Parlament schon in den 80er Jahren ein eigenes Pensionssystem ein, also Jahre vor Gründung des Pensionsfonds, in dem Sommer Mitglied war. Zur Zeit hat dieser ältere Rententopf auch ein eigenes Loch - über 256 Millionen Euro. So steht es in dem ganz offiziellen und nicht geheimen jüngsten Bericht des Parlamentsrechnungsführers vom 24.Juni 2008.
Die Christdemokratin verbreitete also eine Legende - die aber auch von respektablen Blättern geglaubt und verbreitet wurde.
Sommers Sagen sind damit noch nicht zu Ende. Sie verstieg sich auch zu der Behauptung, dass Abgeordnete die Rente aus dem Pensionsfonds (in dem sie Mitglied war) immer mit anderen Rentenbezügen verrechnen müssten: "Der Bezug einer 'doppelten Pension' ist somit ausgeschlossen."
Das stimmt rechtlich sicherlich für deutsche Abgeordnete - was es aber umso mysteriöser erscheinen lässt, warum Sommer und so viele ihrer Kollegen von CDU, CSU, SPD oder Grünen trotzdem Mitglied in dem EU-Fonds waren oder sind.
Sommers Behauptung ist aber falsch für viele der nicht-deutschen Abgeordneten. Und ganz besonders für die italienischen und französischen EU-Abgeordneten, die allein vom europäischen Steuerzahler mit zwei verschiedenen Pensionen bedacht werden: Erstens aus dem oben erwähnten Topf mit seinem 256-Millionen-Loch. Zweitens mit einer weiteren Luxusrente für diejenigen unter den zahlreichen französischen und italienischen Politiker, die auch im Sommer-Fonds Mitglied sind - und wo das Minus sich zur Zeit, wie gesagt, auf 120 Millionen beläuft.
Nirgends in den geltenden Spesenbestimmungen des EU-Parlaments ist bisher davon die Rede, dass beide Pensionen verrechnet werden müssten. Zugegeben, diese Spesenbestimmungen verschickt die Parlamentspressestelle nur auf ausdrückliche Anfrage. Auf der Parlamentswebsite findet man sie – anders als die Regeln des Bundestages auf der Bundestagshomepage - nicht. Alles was man auf der EU-Website findet, ist eine grobe Zusammenfassung einiger Spesenregeln. Details zu den Pensionsfonds des Europaparlaments sucht man dort völlig vergebens.
Aber das ist wohl der Zweck der Übung. Damit man Bürger und Berichterstatter weiter ungestraft mit - wie nennt Sommer das? - "haltlosen Unterstellungen" füttern kann. Oder mit Gen-Mais. Oder mit beidem. Schöne Träume!