Hans-Martin Tillack Wen kümmern 50 Milliarden Euro?

Die Zuckungen an der Nachrichtenbörse scheinen manchmal fast so irrational wie die Schwankungen der Finanzmärkte.

Das lässt sich sehr schön am Beispiel des verstaatlichten Pleiteinstituts Hypo Real Estate (HRE) und ihrer Bad Bank zeigen, der ebenfalls in München ansässigen FMS Wertmanagement.

Im August enthüllten wir im stern eine wirklich schlechte Nachricht, die diese beiden Institute betraf: Die Abwicklung der Giftpapiere der HRE, die seit Oktober 2010 von der FMS verwaltet werden, wird uns Steuerzahler wohl zusätzliche 50 Milliarden Euro kosten. Einfach deshalb, weil die Wertpapiere weniger Wert sind, als es die Bilanz verrät.

Die Geschichte ging nicht unter; sie wurde von einigen Agenturen und Zeitungen aufgegriffen. Große Aufregung verursachte sie aber nicht.

Am Freitag vergangener Woche enthüllten wir eine Information, die letztlich eine gute Nachricht ist. Die Verbindlichkeiten der Bad Bank sind um 55,5 Milliarden Euro gesunken – und zwar wegen eines Bilanzierungsfehlers bei HRE und FMS. Diese Story fand europaweite Aufmerksamkeit. Von der „Financial Times“ in London bis zu „Le Monde“ in Paris berichteten die Blätter. Seit Tagen beschäftigt der Fall auch die deutsche Politik; heute hatte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Vorstände aller beteiligten Banken extra nach Berlin einbestellt, um das „Missverständnis“ (Schäuble) aufzuklären.

Also kein Vergleich zu den eher müden Reaktionen auf die schlechte Nachricht vom August. Warum solch ein Unterschied?

Vielleicht deshalb, weil die Menschen längst müde sind, von neuen Staatsschulden zu lesen – und unsere Geschichte vom August darum dem Motto für banale Meldungen folgte? Hund beißt Mann! Wogegen die Story über den 55,5-Milliarden-Rechenfehler eher einem anderen Muster folgt: Mann beißt Hund? Oder vielleicht doch, weil der Fall die schlimmsten Befürchtungen über ein Finanzsystem bestätigt, das selbst für diejenigen nicht mehr beherrschbar ist, die es betreiben?

Es gibt noch eine andere Erklärungsmöglichkeit. Die betrifft die jeweils unterschiedliche Reaktion der Regierung. Die langfristig gefährliche Nachricht über die um 50 Milliarden steigenden Kosten der Bankenrettung hatte das Finanzministerium wohlweislich nicht bestätigt. Die Geschichte mit dem Rechenfehler sehr wohl. Und für viele Redaktionen, gerade bei Nachrichtenagenturen wie der dpa oder auch den Tageszeitungen ist die Reaktion der Behörden oft entscheidend.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wie treu und gläubig manche Journalisten jedes Wort eines Ministeriumssprechers übernehmen, zeigte sich am Freitag. Da hatte das Finanzministerium als Reaktion auf unseren Artikel zunächst stundenlang erstaunliche Falschbehauptungen verbreitet. Der Rechenfehler habe nicht 55,5 Milliarden Euro betragen, sondern nur 24,5 Milliarden. Weitere 30 Milliarden seien deshalb aus der Bilanz verschwunden, weil die Bad Bank Wertpapiere habe verkaufen können. „Insbesondere vor dem Hintergrund der schwierigen Marktlage ist dies eine erfreuliche Entwicklung“, lobte der Sprecher die Arbeit der Schäuble unterstehenden Anstalt.

Das Dumme an diesem Lob war, dass es frei erfunden war. Seit ihrem Bestehen hat die FMS Wertmanagement nach eigenen Angaben lediglich Positionen im Wert von 12 Milliarden abgebaut. Das hätte schon am Freitag jeder durch einen Blick in die veröffentlichten Bilanzen der FMS in Minutenschnelle feststellen können; oder auch durch einen Anruf bei der Abwicklungsanstalt.

Das dämmerte dann offensichtlich auch den Presseleuten von Wolfgang Schäuble. Am späten Freitag abend riefen sie bei den Redaktionen an und entschuldigten sich für die – angebliche - Kommunikationspanne.

Die Redakteure von Spiegel Online zum Beispiel korrigierten darauf für jeden sichtbar die Falschdarstellung, die sie vom Ministerium übernommen hatten. Für die Redaktionen der zwei ehrwürdigsten deutschen Blätter, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Süddeutschen Zeitung“, kam der Rückruf zu spät. Die präsentierten in ihren Samstagsausgaben die Falschangaben des Ministeriums als Fakt. Bei den beiden Blättern, die sich gerne als Inkarnation des Qualitätsjournalismus sehen (und die diesen ja häufig auch liefern, weswegen ich sie gerne lese), hatte keiner die Angaben des Ministeriums geprüft – obwohl das, wie gesagt, eine Arbeit von Minuten gewesen wäre.

Dass wir auf stern.de eine andere Faktenlage präsentiert hatten, kümmerte die Kollegen bei FAZ und SZ offenkundig nicht und ihre Leser erfuhren es an diesem Tag auch nicht. Erst am Montag schwenkten beide Blätter auf die – korrekte – Darstellung um, dass der Rechenfehler nicht 24,5 Milliarden betraf, sondern 55,5 Milliarden. Irgendwelche Erklärungen des Schwenks für eventuell verwirrte Leser habe ich in den Spalten der beiden Gazetten nicht entdeckt.