Nach der Wahl am 18. September könnte es im Bundestag ähnlich knapp werden wie vor 56 Jahren. Konrad Adenauer wurde 1949 nur dank seiner eigenen Stimme zum ersten Bundeskanzler gewählt. Entscheidend war aber genauso, dass die CDU bei der Bundestagswahl ein Überhangmandat erzielt hatte. Nur so kam der "Alte aus Rhöndorf" auf die exakt notwendigen 202 Stimmen. Auch in diesem Jahr könnten ganz wenige Bundestagssitze den Ausschlag geben: Reicht es für ein Bündnis aus Union und FDP? Oder muss Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel eine große Koalition eingehen? Das Zünglein an der Waage könnten dabei nicht nur die "Nachwähler" aus dem nun stark beachteten Dresdner Wahlkreis I, sondern vor allem die Überhangmandate werden.
Feinheiten im Überblick
Zweitstimmen: In der Regel ist der Anteil der Zweitstimmen entscheidend für den Wahlerfolg einer Partei, da auf ihrer Basis die Zahl der Bundestagssitze errechnet wird. Der Bundestag hat 598 Mitglieder.
Überhangmandate: Das "personalisierte Verhältniswahlrecht" kann die Zahl der Abgeordneten erhöhen. Dies tritt ein, wenn eine Partei durch die Erststimmen für ihre Wahlkreiskandidaten mehr Mandate erhält als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen. Da direkt gewählte Bewerber auf jeden Fall in den Bundestag einziehen, erhöht sich die Zahl der Mandate der Partei um diese Überhangmandate. Im scheidenden 15. Bundestag gab es zu Beginn der Wahlperiode fünf Überhangmandate.
Nachbesetzung und Ausgleich: Überhangmandate werden nicht nachbesetzt, wenn ein so ins Parlament gekommener Abgeordneter stirbt oder aus einem anderen Grund ausscheidet. Im 15. Bundestag verringerte sich die Zahl im Laufe der Wahlperiode auf drei. Im Gegensatz zu den Regelungen in den Ländern gibt es bei Bundestagswahlen keinen Ausgleich für Überhangmandate. Bei Landtagswahlen wird das Verhältnis der Zweitstimmen bei den Mandaten wiederhergestellt, in dem andere Parteien zusätzliche Sitze (Ausgleichsmandate) erhalten, um Überhangmandate auszugleichen.
Nachwahl in Dresden: Nach dem Tod der NPD-Kandidatin wird die Wahl im Wahlkreis Dresden I auf den 2. Oktober verschoben. Damit wird mindestens ein Sitz im Bundestag, der für die Mehrheit wichtig sein könnte, erst nachträglich einer Partei zufallen. Wenn die Wahl im Rest des Landes äußerst knapp ausgeht, könnte sogar die Verteilung der Zweitstimmen in dem Wahlkreis eine entscheidende Rolle spielen. Auch auf die Zahl der Überhangmandate könnte sich das Ergebnis auswirken.
Zweitstimme in der Regel entscheidend
Entscheidend für die Sitzverteilung im Bundestag sind im Grundsatz die Zweitstimmen, die für die Parteien abgegeben werden. Die Bürger wählen mit ihren Erststimmen aber auch die Wahlkreiskandidaten. Die Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland durch die Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen würden. Die Direktmandate werden normalerweise mit den Sitzen, die über die Zweitstimmen gewonnen werden, verrechnet. Das Bundeswahlgesetz sagt aber, dass die siegreichen Wahlkreiskandidaten in jedem Fall ins Parlament einziehen dürfen.
Das kann sich durchaus auszahlen: In Brandenburg hätte die SPD beispielsweise 1998 nach den Zweitstimmen nur neun Sitze gewonnen. Da damals die Sozialdemokraten aber alle damaligen 12 Wahlkreise gewannen, entsandten sie auch 12 Abgeordnete in den Bundestag. Überhangmandate stabilisierten 2002 die hauchdünne rot-grüne Mehrheit. Die SPD gewann im gesamten Bundesgebiet vier solcher "Bonus"-Stimmen, die CDU nur ein solches Mandat. Nur dank der Zusatz-Mandate konnte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die vergangenen drei Jahre überstehen. Ohne sie wäre es vermutlich schon viel früher zu einer Neuwahl gekommen.
Auch am 18. September wird es nach Ansicht von Wahlforschern wieder Überhangmandate geben. Lange Zeit war davon ausgegangen worden, dass auch hier die CDU stark profitieren könnte. Intern hofften die Christdemokraten auf fünf solcher Mandate, insbesondere in Rheinland-Pfalz, Thüringen und vielleicht auch Sachsen. Der Bamberger Politikwissenschaftler Joachim Behnke, der sich nach eigenen Angaben intensiv mit dem Thema beschäftigt hat, gab diesen Prognosen noch Mitte vergangener Woche Recht und prognostizierte bis zu fünf Überhangmandate, "selbst wenn es für die Union schlecht läuft".
Nach Behnkes Angaben gilt die Faustregel, dass immer dann eine Partei Überhangmandate erwarten kann, wenn sie bei den Zweitstimmen einen großen Vorsprung vor den nächsten Konkurrenten habe. Noch trifft diese Voraussetzung zu. Union und SPD trennen auch nach den letzten Umfragen 7 und 8 Prozentpunkte. Aber es sind auch nicht 10 Prozentpunkte wie Anfang August. Auf die Frage, wo Überhangmandate am ehesten zu erwarten sind, verweisen Demoskopen wie Andrea Wolf von der Forschungsgruppe Wahlen insbesondere auf Ostdeutschland. Grund ist, dass dort drei annähernd gleich starke Parteien konkurrieren, die bei den Zweitstimmen eng aufeinander folgen.
Stimmensplitting begünstigt Entstehen von Überhangmandaten
Um einen Wahlkreis zu erringen, genügen in Ostdeutschland vielleicht schon 35 Prozent der Stimmen. Lange konnte davon ausgegangen werden, dass die CDU im Osten flächendeckend Wahlkreise gewinnen wird. Jetzt bröckelt aber der Vorsprung. Eine Möglichkeit haben aber die Wunschpartner von Union und FDP noch. Die Liberalen müssten ihren Wähler kurz vor der Wahl signalisieren, ihre Erststimmen flächendeckend den Unions-Wahlkreiskandidaten zu geben. Denn auch das Stimmensplitting begünstigt das Entstehen von Überhangmandaten, die für Merkel ähnlich wichtig werden könnten wie einst für Adenauer.