Zwischenruf Der Kommunismus siegt

Hartz IV ist das glatte Gegenteil dessen geworden, was es sein sollte: Ausbau statt Abbau des Sozialstaats. Arbeit wird verhöhnt, Nichtstun belohnt. Aus stern Nr. 22/2006

Die Utopie triumphiert, der Kommunismus hält Einzug in Deutschland. Kommunismus, das sollte nach Karl Marx der Übergang vom eher anstrengenden Sozialismus - "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" - zum Paradies auf Erden sein: "Die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit" sei überwunden, schrieb er in seiner "Kritik des Gothaer Programms" der Sozialdemokratie, nun gelte der Grundsatz: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Die Befreiung von Arbeit, die Alimentierung der Bedürfnisse, garantiert heute ausgerechnet jenes System, das unter heftigen politischen Wehen geboren wurde, um Arbeitsuchende wie Arbeitsverweigerer zu jeder Art von Beschäftigung zu pressen: Hartz IV.

Sie wussten nicht, was sie taten. Sie ahnten nicht, was sie anrichten würden. Die Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unter dem Patronat Gerhard Schröders und Angela Merkels wurde nicht etwa, was beabsichtigt war, was die Sozialdemokraten schier zerriss und die Geburtsstunde der Linkspartei illuminierte, sondern das glatte Gegenteil: Der scheinbar brutalste Abbau staatlicher Stütze in der deutschen Sozialgeschichte entpuppte sich als ihr komfortabelster Ausbau. Statt Arbeit unter allen Umständen zu erzwingen, eröffnete Hartz den Weg zu einem gesellschaftlichen Grundeinkommen, das Arbeit verhöhnt und Nichtstun belohnt. Ungewollt und unheimlich.

Denn nicht etwa bloß das täuschend schäbig anmutende Arbeitslosengeld II von monatlich 345 Euro, das ab Juli auch im Osten gezahlt wird, prägt die Existenz von Hartz-IV-Empfängern, sondern ein ausgewuchertes System der Zusatzleistungen - von der Miete bis zum Kinderwagen -, mit dem die Politik das Elend lindern wollte. Eine Familie mit zwei Kindern kann es unter günstigsten Umständen auf monatlich fast 2000 Euro bringen, was einem Stundenlohn von gut 12 Euro brutto entspricht. Ohne Arbeit. Das ist deutlich mehr, als ein Bauarbeiter in der Stunde verdient. Unter Schweiß.

Es kommt immer noch was drauf. Etwa das von der Koalition beschlossene Elterngeld, das eigentlich nur Lohnersatz sein soll, wenn Mutter oder Vater den Beruf wegen eines Kindes vorübergehend an den Nagel hängen. Begünstigt werden nun aber, da sie das alte Erziehungsgeld verlieren, auch arbeitslose Hartz-IV-Empfänger, ein Jahr lang mit monatlich 300 Euro.

Eine wahre Honigroute zum Kommunismus eröffnet die Möglichkeit, das Arbeitseinkommen auf Hartz-IV-Niveau zu heben, falls es unter der vielfach gepolsterten Stütze liegt. Mehr als eine Million Menschen haben sich als "Aufstocker" registrieren lassen, bald könnten es zwei Millionen sein, schätzt das Diakonische Werk. Selbst Unternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte zählen dazu. Wer Familie hat, kann sich noch bei brutto 2000 Euro im Monat subventionieren lassen. Ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen ist damit entstanden, zudem noch ein flächendeckender Kombi-Lohn, den die Große Koalition eigentlich erst im Herbst einführen möchte, und das auch nur für Niedriglöhner unter 25 und über 50 Jahren. Will das die Gesellschaft - und kann sie es bezahlen?

Eine Familie mit zwei Kindern kann es auf monatlich fast 2000 Euro bringen, was gut zwölf Euro Stundenlohn entspricht

Sie kann offenkundig immer weniger. Denn die Hartz-IV-Leistungen überspülen den Bundesetat wie eine Tsunami-Welle. Schon im vergangenen Jahr schwollen die Zahlungen für Arbeitslosengeld II auf 25 Milliarden Euro an, zehn Milliarden mehr als geplant. 2006 könnten noch einmal drei bis vier Milliarden dazukommen. Im März gab es rund vier Millionen Bedarfsgemeinschaften für Hartz IV, allein in Berlin leben davon 335000 Haushalte, fast ein Viertel mehr als Anfang 2005 - trotz sinkender Arbeitslosenquote. Eine Großstadt von Gestützten, verpuppt in der Hauptstadt. Die Dämme der Scham scheinen zu brechen. Galt es früher selbst bei Bedürftigen als Makel, zum Sozialamt zu gehen, wird heute fantasievoll erkundet, wie ein Platz an den Fleischtöpfen des Sozialstaats erobert werden kann. 3,2 Millionen Deutsche sind inzwischen von den Rundfunkgebühren befreit, 2004 waren es nur 2,7 Millionen. Ganz nach dem neudeutschen Abgreif-Motto: "Ich bin doch nicht blöd."

Blöd sind all jene, die dafür mit Steuern und Gebühren geradezustehen haben. Aber das ist fatalerweise eine Minderheit, denn nur noch 39 Prozent der Deutschen leben von Arbeit. Also ist die Politik vorsichtig mit Kürzungen. Wer zupackt, könnte bei Wahlen bestraft werden. Der Regelsatz von 345 Euro gilt als unantastbar. Um Nebenleistungen und Missbrauch wird gerungen. Doch eigentlich müssten die "Aufstocker" aus dem System gekippt werden. Franz Müntefering, der zuständige Arbeitsminister, testete in der SPD-Fraktion schon mal den Aufstand der Plebejer. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", zitierte er im Tumult den sozialdemokratischen Urvater August Bebel. Das klang wie eine Kampfansage an den sozialstaatlichen Kommunismus.

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Hans-Ulrich Jörges