Zwischenruf Müntes Lob

Franz Münteferings Bild in der Öffentlichkeit ist verschwommen - er steht unter Feuer von links und rechts. Zeit für ein Plädoyer zur Verteidigung des Vizekanzlers. Aus stern Nr. 23/2006

Sie haben ihn nicht begriffen. Die Gewerkschafter, die ihn vergangene Woche auf dem DGB-Kongress auspfiffen. Wegen der Rente mit 67. Die Unions-Zuspitzer, die ihn dieser Tage ans Scheunentor zu nageln versuchen. Wegen der Entgleisung von Hartz IV. So ist Franz Müntefering nicht zu bewegen. So verhärtet man ihn. Zugegeben: Der Mann ohne Charisma, der Sauerländer mit den knarrenden Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätzen, ist nicht einfach zu begreifen. Er ist verschlossen und lebt abgeschlossen, er ist so etwas wie die Sphinx der Großen Koalition. Rätselhaft, irgendwie außerhalb von Zeit und Moden. Wie würde sich der Doppelgesichtige in Stellung bringen, war die Frage, als die Große Koalition begann, als ideologiegetriebener Heuschrecken-Jäger oder als realitätsbekehrter Gestalter des Unausweichlichen? Ein gutes halbes Jahr später lässt sich ein erstes Urteil wagen: Der Mann ist so etwas wie die Personifizierung der Großen Koalition - mehr noch vielleicht als Angela Merkel -, ihrer Grenzen, aber auch ihrer nicht geringen Möglichkeiten. Zeit für Müntes Lob.

Denn Franz Müntefering hat Spuren hinterlassen und Selbstauskünfte gegeben, die ihn fassbarer machen - und die Zuversicht begründen. Es zeigt sich ein innerlich freier Mann, der alles erlebt hat und nichts mehr werden will. Der redlich und unspektakulär, nach den Regeln von Vernunft und Notwendigkeit, Veränderung durchsetzt. An dem enorme Kräfte zerren, von links und rechts, die er in Rechnung zu stellen und aufzufangen hat, denen zu widerstehen er aber entschlossen scheint. Dieser Franz Müntefering hat seinen eigenen Leuten bisher mehr zugemutet als der unverständig bockenden Union. Trotz Reichensteuer und Gleichbehandlungsgesetz - hysterisch dramatisierter Schnickschnack.

Das ist seine Methode: Großes kommt klein daher - und erst in der Distanz offenbart sich, was er getan hat. Das war so, als er die frühzeitige Einführung der Rente mit 67 verkündete und seine SPD wie die Gewerkschaften überrumpelte. Eine säkulare Entscheidung. Das war so, als er auf dem DGB-Kongress die gefährlichen Träume vom Mindestlohn, gesetzlich oktroyiert und einheitlich für die gesamte Wirtschaft, zerstörte und tarifvertragliche Lösungen empfahl, differenziert nach Branchen, der Klugheit von Arbeitgebern und Gewerkschaften überantwortet. Ein Sieg ökonomischer Vernunft. Und das dürfte wieder so sein, wenn das Hartz-Desaster mit Kontrollen und Sparmanövern allein nicht zu bewältigen ist, wenn die Ausbeutung der Ahnungslosen durch die Abräumer, der Betrug der Arbeitsunwilligen an den Arbeitenden, zum Himmel stinkt. Aber jetzt nicht, nicht unter Druck von rechts, nicht auf seine Kosten und die der SPD allein. Wer jetzt mehr erwartet, hält ihn für blöd.

Er arbeitet Irrtümer ab, seine persönlichen wie die der SPD, aber in eigener Regie. Die Rente mit 67 verweigerte er im Wahlkampf als SPD-Projekt, jetzt setzt er sie durch. Die Heuschrecken ließ er vor der Wahl übers Land fliegen, als Inbegriff des gefräßigen Kapitalismus, jetzt sanktioniert er eine Unternehmensteuerreform, die dem Kapital Futter gibt. Gerhard Schröders Reformkurs war zu Ende, als der ihm Anfang 2004 den SPD-Vorsitz auflud, jetzt muss er die Reformpolitik beschleunigen. Auch gegen links, aber nicht mehr contre cœur.

Er hat seinen eigenen Leuten bisher mehr zugemutet als der unverständig bockenden Union. Wer jetzt mehr erwartet, hält ihn für blöd

Franz Münteferings Interviews brechen spröde wie Knäckebrot, doch jedes transportiert in Variationen eine ernst zu nehmende Botschaft, fast ein Gelübde. "Meine Aufgabe ist jetzt das Gestalten, das Handeln, die Probleme des Landes zu lösen helfen", sagt er. Oder: "Ich habe keine Lust, mich täglich umzugucken, ob etwas populär ist." Oder: "Ich glaube, dass die SPD die Verpflichtung hat, Klartext zu reden und zu gestalten, statt zu verwalten. Wir ducken uns nicht weg." Oder: "Ich muss dafür sorgen, dass die Koalition vorankommt." Das ist nicht der Gassenhauer eines Lügners, so klingt patriotischer Kammerton.

Ein halbes Dutzend Mal täglich telefoniert er mit der Kanzlerin, um den Laden zusammenzuhalten. Nicht einmal hat er der Versuchung nachgegeben, auf ihre Kosten zu punkten - selbst als Volker Kauder das Konzept einer Gesundheitsreform öffentlich ausbreitete, hielt er an sich. Kurt Beck, der neue SPD-Chef, ist ernster zu nehmen als der volontierende Vorgänger Matthias Platzeck, aber er ist auch professioneller und erhebt nicht den Anspruch, dem Vizekanzler in allen Details reinzureden. Der bleibt das zweite Rad an der Achse.

66 Jahre alt ist Franz Müntefering heute. Zum ersten Mal ist er nicht mehr Zuarbeiter von irgendjemandem, sondern Gestalter, fast sein eigener Herr. Als er mit seinem Generalsekretärskandidaten im SPD-Vorstand durchfiel und den Parteivorsitz hinwarf, nahm er das fast wie ein Gottesurteil an. Persönlicher Ehrgeiz treibt ihn nicht mehr. Er will noch ein paar Dinge regeln, die Bestand haben. Bei der Wahl 2009 wird er 69 sein. Rente mit 69 - gelingt es, kein schlechtes Modell.

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Hans-Ulrich Jörges