So sieht ein Erdbeben des Vertrauens aus. So misst man die Erschütterungswerte einer Katastrophe - einer Katastrophe der politischen Kommunikation, der Verständigung zwischen Regierung und Volk. Drei Viertel der Deutschen glauben, dass die Gesundheitsreform die medizinische Versorgung verschlechtern und gleichzeitig teurer machen wird. Am selben Tag, an dem der verheerende Befund des ZDF-Politbarometers verbreitet wird, verirren sich die Fachchinesen der Großen Koalition bei der Debatte des Reformwerks im Bundestag im Kauderwelsch ihrer Rechtfertigungsversuche. Sie begreifen nicht, was sich draußen abspielt. Sie reden ins Leere. Sie können nicht überzeugen, weil sie selbst nicht überzeugt sind. Denn das ist noch nie passiert in der unendlichen Geschichte politischer Irrtümer: Niemand in der Koalition ist von dieser Reform überzeugt. Ja, in der Union halten den Weg in die Staatsmedizin mit dem behördlich festgelegten Krankenkassenbeitrag und dem monströsen Gesundheitsfonds sogar alle für falsch. Alle. Tief drinnen in ihren Herzen. Aber ihre Kanzlerin will es nun mal so.
Wenn drei Viertel des Volkes das glatte Gegenteil dessen glauben, was ihnen versichert wird, dann müsste Politik eigentlich innehalten. Stoppen, was geplant ist, hören, was die Menschen sagen - und die Kraft, den Mut, die Souveränität aufbringen, neu zu denken, neu zu beginnen. Wenn das Volk nicht überzeugt ist, hat die politische Kommunikation versagt - und die Politik ist gescheitert. Dann reißt der Draht zwischen Regierenden und Regierten. Wenn taub und stumm regiert wird, dann zersetzt sich Demokratie. Dann blühen auf dem Kompost Ideen wie die Oskar Lafontaines, politische Streiks gesetzlich zu erlauben, damit sich das Volk wehren kann.
Es geht auch anders. Ganz anders. Und die Menschen können das gerade in diesen Tagen beobachten. Wenn's ums Geld geht, das Geld von Politikern. Als perfekt organisierte Walze rollt das Marketing für Gerhard Schröders Memoiren übers Land. Des Kanzlers, der in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 ganze sechs Sätze auf die Hartz-IV-Reform verwandte. Des Gerhard Schröder, der im "Spiegel" nur Wahlkämpfe zu "Zeiten direkter Kommunikation mit dem Volk" erklärt: "Das direkte Gespräch über die gesamte Legislaturperiode ist faktisch unmöglich, nicht aus Zeitgründen, sondern weil es einen Mangel an Aufmerksamkeit gibt." Das Volk ist schuld?
Schröder ist daran gescheitert. Die nach ihm kamen, haben nichts daraus gelernt. Als die Gesundheitsreform von den Spitzen der Koalition final verabredet wurde, stellten sie sich nachts um 2.15 Uhr der Presse zu Kurz-Statements. Am Vormittag bequemte sich Ulla Schmidt zu einer Kurz-Pressekonferenz: "Noch fünf Minuten, weil ich zum Flughafen muss." Angela Merkel gab Kurz-Interviews fürs Fernsehen, Fragen verboten, weil sie in die Türkei wollte. Das Volk ist bis heute zu kurz gekommen - niemand hat auch nur den Versuch unternommen, ihm die Sinnhaftigkeit der Beschlüsse in Ruhe und im Zusammenhang zu erläutern, etwa in einer Regierungserklärung der Kanzlerin.
Wenn sich Demokratie zersetzt, blühen auf dem Kompost Ideen wie die Oskar Lafontaines, den politischen Streik zu erlauben
Regieren über die Köpfe hinweg, von oben nach unten, autistisch und eingekapselt. Das ist zur Methode geworden. Im nächsten Wahlkampf, pfeifen die Regenten im dunklen Keller, werden sie uns schon wieder folgen. Ach ja, haben die vergangenen Wahlkämpfe nicht einige Überraschungen gebracht? Haben sie nicht demonstriert, dass Politik ohne kluge, beständige und ehrliche Kommunikation misslingt?
Doch dafür fehlt heute alles: gesprächsfähige und - willige Leitfiguren mit Charisma, Überzeugungen und einprägsamen Überschriften für ihre Projekte - ausgestorben. Parlamente als Foren für das offene Gespräch mit dem Volk - stillgelegt. Parteitage als Schauplätze für produktiven Streit und Initiativen von unten - entkernt. Die Politik begibt sich ganz in die Hände der Medien - und lässt ihre eigenen Möglichkeiten verkümmern.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Neue werden nicht entwickelt. Oder verschenkt. Podcasts wie die wöchentliche Video-Botschaft der Kanzlerin ans Volk geben sich der Lächerlichkeit preis. Internetportale sind nicht mehr als öde Instrumente der Schönfärberei, des immer gleichen Dozierens von oben nach unten. Dabei könnten sie genutzt werden, um Stimmungen durch Stimmen von unten in Diskussionsforen zu erkunden. Und direkte Demokratie zu entfalten - durch Abstimmungen über Kandidaten und Programme der Parteien.
Es gibt geborene Genies der Kommunikation, doch die sind selten. Kommunikation ist ein Handwerk, das Ausbildung, Erfahrung und strategisches Denken erfordert - Experten eben. Regierungssprecher gehören nicht als Dementi-Papageien auf Kanzler-Schultern, sondern als populäre und eigenständig agierende Kommunikationschefs mitten hinein in die Öffentlichkeit. Und im Ministerrang mit Sitz und Stimme an den Kabinettstisch - als politische Katastrophenschützer.