Zwischenruf Zwei Köpfe, ein Ei

Die Gesundheitsreform als exemplarischer Fall: Zwischen SPD und CDU gibt es längst keine echten Gegensätze mehr - die Politik ist planiert. Aus stern Nr. 32/2003

Ob dieses schrundige Ei den Streit der Hennen wirklich wert war, sei dahingestellt. Von Interesse soll hier nur sein, dass überhaupt derart kontrovers und dann auch noch ohne erkennbaren Sieger um die Urheberschaft an jener Gesundheitsreform gerangelt wurde, die durch vieles diskussionswürdig ist, bloß nicht durch Reformen. Wie auch immer, schon die mediale Widerspiegelung war bizarr: "Union setzt ihre Gesundheitspolitik durch", titelte die "Süddeutsche Zeitung" - "Schröder victory on healthcare reforms" die "Financial Times". Und während Angela Merkel "die Handschrift der Union" entzifferte, pries Olaf Scholz das Werk als ganz und gar "sozialdemokratisch".

Die Wahrheit ist: Das eine ist so richtig oder falsch wie das andere. Und nicht etwa bloß, weil es ein besonders raffinierter Kompromiss wäre. Das Ding, das die Parteien in unverschämtem Erzeugerstolz Gesundheitsreform nennen, macht vielmehr exemplarisch klar: Sozialdemokratie und Christdemokratie gibt es nicht mehr, weder programmatisch noch in der Praxis.

Fast-Food-Menü der Berliner Republik

Über dem Fast-Food-Menü der Berliner Republik gießen die Köche nur noch die Einheitssauce ihrer ununterscheidbar vermatschten Ratlosigkeit aus. Denn einstige Gesellschaftsentwürfe sind längst in der Geschichte versunken, Grundsatz- und Programmarbeit mit Profil leisten beide großen Parteien nicht mehr. In ihrem ideengeschichtlichen Kern haben sich Sozialdemokratie und Christdemokratie schleichend aufgelöst. Inszenierter Streit, aufgeblasene Differenzen im Detail, artifiziell beleuchtetes Spitzenpersonal sollen das Publikum über diese epochale Einebnung der Politik hinwegtäuschen.

Wer genau hinschaut, erkennt: Selbst die Spitzenleute sind sich zum Verwechseln ähnlich. Machtwille treibt sie, längst nicht mehr Überzeugung. Gerhard Schröder und Angela Merkel sind politisch eineiige Zwillinge. Keine Idee, die das Etikett verdient, verbindet sich mit ihren Namen. Das "Schröder-Blair-Papier" war nicht mehr als eine propagandistisch motivierte England-Anleihe, Frau Merkels "neue soziale Marktwirtschaft" ein Gebet an der Gruft Ludwig Erhards. Beide irren durch die Probleme der Zeit, beide verbergen ihre Scheu vor Veränderung hinter Reformrhetorik, beide verdanken Aufstieg und Image allein der Hoffnung auf Erneuerung - und der Ausschaltung innerparteilicher Rivalen: Schröder brachte Scharping und Lafontaine zur Strecke, Merkel kippte Kohl, Schäuble und Merz.

Schröder und Merkel könnten problemlos in einer Partei sein

Oben, Hauptsache oben. Aber wofür? Fundamental unterscheiden sich SPD und Union in nichts mehr. Der CDU ist mit dem Untergang des Sozialismus mehr als nur das Feindbild des Kalten Krieges abhanden gekommen; ohne gesellschaftlichen Gegner gibt es auch keinen politischen Gegenentwurf mehr. Die SPD wiederum hat ihre historische Daseinsberechtigung verloren: den Ausbau des Sozialstaats durch Umverteilung und damit den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Krise der Gewerkschaften ist auch die Krise der SPD.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Alte Gegensätze sind kurios planiert

Olaf Scholz? Versuch, die "Verteilungsgerechtigkeit" aus dem Ideenschatz der Sozialdemokraten zu eliminieren und durch "Freiheit und Teilhabe" zu ersetzen, ist so ehrlich wie konsequent - aber Christdemokratie pur. Und Edmund Stoibers Barmen um das Leberkäs-Milieu der kleinen Leute klassische Sozialdemokratie. Alte Gegensätze sind kurios planiert. Keine Regierung hat seit dem Krieg so viele deutsche Soldaten ins Ausland geschickt wie die rot-grüne. Kein Innenminister hat Sicherheit so über Freiheit gestellt wie der "linke" Otto Schily.

Was bleibt, ist - siehe die Gesundheitsreform - Klempnerei mit Instrumenten aus ein und demselben Werkzeugkasten. Der Streit, zu welchem Instrument man im Einzelfall greift, verläuft nicht mehr zwischen den Parteien, sondern in ihren eigenen Reihen. Die "Agenda 2010" trennte nicht SPD und CDU, sondern Schröders Gefolgschaft. Über die Idee der Bürgerversicherung zerlegt sich die CDU ganz allein.

Vielleicht erklärt das auch ein wenig die Scheu vor der großen Koalition: Sie fiele den Partnern heute so leicht wie nie, weil es nicht mehr Feuer und Wasser zu versöhnen gilt. Aber dem Publikum gingen wohl rasch die Augen auf: Die sind ja alle gleich! Womöglich gleich schlecht. Schröder und Merkel jedenfalls könnten problemlos in einer Partei sein. Oder Merkel übernimmt den SPD-Vorsitz, und Schröder wird Kanzlerkandidat der Union. Warum nicht? Anything goes.

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Hans-Ulrich Jörges