Nirgends und zu keiner Zeit dürfte eine so winzige Minderheit eine so bedeutsame Rolle gespielt haben wie die Juden in Deutschland in dem halben Jahrhundert vor der Herrschaft der Nationalsozialisten. Im Jahr der Gründung des Deutschen Reichs 1871 lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei knapp über 1 Prozent, kurz vor der NS-Machtergreifung 1933 bei 0,8 Prozent. In relativ kurzer Zeit brachte diese kleine Gemeinschaft eine enorme Zahl von herausragenden Unternehmern, Künstlern, Schriftstellern, Geistes- und Naturwissenschaftlern, Publizisten und Politikern hervor.
"Porträt der jüdisch-deutschen Epoche" von Amos Elon
Die Beschreibung dieser Entwicklung ist Kernstück eines Buchs des in Jerusalem, Italien und New York lebenden Journalisten und Autoren Amos Elon, das jetzt auch in deutscher Ausgabe vorliegt: "Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)".
Es ist besonders das vielfältige Datenmaterial in der Darstellung, welches das schließlich in der Judenvertreibung und -vernichtung katastrophal geendete jüdisch-deutsche Miteinander sehr plastisch macht. Die meisten Juden in Deutschland waren ganz gewöhnliche Geschäftsleute, Händler, Selbstständige, aber unproportional viele überragten sie weit. 40 der 200 reichsten Familien in Preußen an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert waren jüdische Familien. Die damals 5 Prozent Juden in Berlin entrichteten mehr als 30 Prozent des gesamten Steueraufkommens der Stadt. 1886 kamen 20 Prozent der Berliner Hochschulstudenten aus jüdischen Familien.
Kunstbegeistertes Bürgertum
Keine andere Bevölkerungsschicht in Deutschland - oder anderswo in Europa - war so kunstbegeistert wie das deutsch-jüdische Bürgertum in der Zeit Kaiser Wilhelms II.. Der zeitgenössische Schriftsteller Theodor Fontane erwähnte, dass die Juden ihre Villen lieber mit Musikzimmern als mit Rennställen ausstatteten und die Wände lieber mit Bücherregalen als mit Ahnenporträts schmückten. 28 der 31 großen Mäzene der Nationalgalerie vor dem Ersten Weltkrieg waren Juden.
Das Buch
"Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)" ist im Carl Hanser Verlag, München, erschienen: 423 S., 24,90 Euro (ISBN 3-446-20283-8).
Unter den Neuerscheinungen zum gleichen Thema ist auch der Sammelband "Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945", den Marion Kaplan im Auftrag des Leo Baeck Instituts im Verlag C.H. Beck, München, herausgegeben hat: 638 S., 39,80 Euro (ISBN 3-406-50205-9).
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Juden ein Leben in Armut geführt. In Preußen, wo die Mehrheit lebte, hatten 70 Prozent eine unsichere Randexistenz gehabt, oft als umherziehende Trödler und Bettler. Um 1870 war deren Zahl auf 5 Prozent gesunken. Gemessen an der entrichteten Steuer gehörten mehr als 60 Prozent inzwischen zur Mittelschicht. Sie dürfte den schnellsten und größten Sprung gemacht haben, den je eine Minderheit in der modernen europäischen Geschichte gemacht hat, schreibt Elon.
Sechs jüdische Reichsminister zwischen 1919 und 1924
Dabei gilt es, die Vorurteile und die Ablehnung zu berücksichtigen, die diesen Menschen oft entgegengebracht wurden. Gleichberechtigt in jeder Beziehung waren die Juden erst nach 1918 in der Weimarer Republik - so etwa bei der Besetzung von Stellen im höheren Staatsdienst. In den meisten deutschen Ländern amtierten dann jüdische Minister. Zwischen 1919 und 1924 gab es sechs jüdische Reichsminister.
Über die Gründe für den Aufstieg der Juden in Deutschland wird schon lange spekuliert. Elon nennt als mögliche Faktoren die Selbstbehauptung des Außenseiters, die Herausforderung, die in der Zurücksetzung gesehen wurde, und "stammesinterne Zwänge".
Neid und Ressentiments als Folgen des Aufstiegs
Die Folgen des Aufstiegs waren auch Neid und Ressentiments in der Bevölkerungsmehrheit. Insgesamt verzeichnet der Autor für die Geschichte der Juden in Deutschland in jenem Zeitraum Höhen und Tiefen - bis kurz vor Adolf Hitlers Herrschaft aber weitaus mehr Höhen. Jedenfalls leisteten die Juden einen wichtigen Beitrag zum internationalen Rang Deutschlands in manchen Bereichen, vor allem in den Naturwissenschaften und der Wirtschaft.