Ein für heutige Verhältnisse merkwürdiger politischer Schöngeist. Ein Vermittler zwischen den politischen Lagern. Ein Wegweiser für eine neue Außenpolitik. All das verkörperte Kurt Georg Kiesinger. Und doch gilt der dritte Regierungschef der Bundesrepublik heute als der "vergessene Kanzler". Zu seinem 100. Geburtstag am 6. April gehen die Meinungen über Kiesinger nach wie vor auseinander.
An seine Spitznamen "Häuptling Silberzunge" wegen seiner Redekunst und "wandelnder Vermittlungsausschuss" wegen seiner ausgleichenden Art erinnern sich noch viele Zeitgenossen. Die einen, wie der Schriftsteller Günter Grass, halten aber weiter an ihrem Urteil fest, dass Kiesinger wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft nie Kanzler hätte werden dürfen, auch wenn er nur ein Mitläufer gewesen sein könnte. Andere wie Alt-Kanzler Helmut Schmidt sehen Kiesinger schon lange in einem anderen, viel milderen Licht und heben seine Leistungen als Moderator der Großen Koalition von 1966 bis 1969 hervor.
Großen Anteil an den inneren Reformen
"Man wird Kiesingers Leistung nicht gerecht, würde man ihn lediglich als Übergangskanzler sehen. Die Situation, in die Kiesinger hineingestellt war, ließ Spektakuläres nicht zu", wird Schmidt zitiert. Und der Historiker Hans-Otto Kleinmann urteilte bereits vor gut 10 Jahren: "Kiesingers persönlicher Anteil an der Politik der inneren Reformen und an der Entspannungspolitik ist weit größer gewesen, als Beobachter und Kritiker der Großen Koalition, zumal nach deren Ende, erkannten und wahrhaben wollten."
Mit nur knapp drei Jahren Regierungszeit steht Kiesinger im Schatten der Kanzler, die Epochen geprägt haben: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Und doch gilt die Große Koalition unter dem Kanzler Kiesinger als ein Regierungsbündnis, das Ende der 60er Jahre viel bewegt hat. Sein Kabinett, das politische Schwergewichte wie Franz Josef Strauß (Finanzen) und Karl Schiller (Wirtschaft) zusammenführte, überwand die erste Wirtschaftskrise der jungen Republik. Es bereitete - wenn auch zaghaft - die spätere Entspannungspolitik vor. Es verabschiedete nicht nur die Notstandsgesetze, sondern auch grundlegende Sozialreformen - Reformen, die heute wieder in Frage stehen.
Kiesinger war kein Zufallskanzler
Kiesinger war kein Zufallskanzler. Der stets auf sein Äußeres bedachte Jurist war seit 1949 einer der führenden CDU-Politiker gewesen, auch wenn ihn Adenauer von allerhöchsten Ämtern fern hielt. Als Ministerpräsident von Baden-Württemberg, seiner Heimat, der er immer treu blieb, sammelte er über acht Jahre Regierungserfahrung. Dort hielt er Hof wie ein Fürst. Als dann die Koalition von Union und FDP unter Ludwig Erhard zerbrach, fiel die Wahl auf den eloquenten Kiesinger, den Liebhaber von Literatur und Staatsphilosophie.
Das in der Geschichte einmalige Regierungsbündnis von Union und SPD arbeitete zunächst gut zusammen. Der Kanzler verstand die mit unter schwierigen Charaktere am Kabinettstisch zusammenzubinden. Kiesingers Popularität wuchs. Opposition im Bundestag fand fast nicht statt. Die FDP konnte sich kaum Gehör verschaffen. Dafür entwickelte sich an den Hochschulen die Außerparlamentarische Opposition.
Die Ohrfeige von Beate Klarsfeld
Kiesinger fand auf die Demonstrationen keine passende Antwort. Es wird berichtet, dass ihm, dem Bildungsbürger, das Treiben der Studenten höchst suspekt war. Die Friedensaktivistin Beate Klarsfeld ohrfeigte ihn auf einem CDU-Parteitag. Bilder zeigen Kiesinger, wie er danach nicht erbost, sondern eher verständnislos auf den Schlag reagiert, der seiner NS-Vergangenheit galt. Nach der Wahl von SPD-Justizminister Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten mit Hilfe der FDP im November 1968 zeichnete sich das Ende der Großen Koalition ab.
Kiesinger setzte im Wahlkampf 1969 auf Gewinn der absoluten Mehrheit. In der Wahlnacht des 28. September sah er sich schon als Sieger. In den Hochrechnungen lag die CDU vorn. Im Kanzleramt wurde gefeiert. Draußen sang die Junge Union schon ein Ständchen für den alten und vermeintlich neuen Kanzler. Doch dann änderten sich die Meldungen über den Wahlausgang. Nach 20 Jahren war die Union von der Bundesregierung abgelöst. Kiesinger musste das Kanzleramt verlassen. Als Regierungschef besaß er nicht die notwendige Fortune.
Bis 1980 im Buntestag
Der Schwabe blieb weiter im Bundestag und übernahm zunächst die Rolle des Oppositionsführers, verlor aber innerhalb der Partei zunehmend an Rückhalt. Nach dem überraschenden Rücktritt Rainer Barzels als Fraktions- und dann auch als Parteivorsitzender im 1973 half er der Partei aus der Krise. Als kommissarischer Fraktionsvorsitzender leitete er die Verhandlungen über die Neubesetzung der Fraktions- und Parteispitze. 1980 schied er aus dem Bundestag aus. Im Jahr 1988 starb er in Tübingen im Alter von 83 Jahren.