Zeitgeschichte Heinrich Himmlers Hexen-Wahn

Um einen Grund für die Judenverfolgung zu finden, stocherte SS Reichsführer Heinrich Himmler tief in der Geschichte: Die Hexenverfolgungen sollen ein Komplott gewesen sein, die "altgermanische Kultur" auszurotten. Um das zu beweisen, ließ Himmler tausende alter Dokumente durchforsten.
Von Joachim Wehnelt

Kaum ist Heinrich Himmler, der "Reichsführer SS", zu einem der mächtigsten Männer der Nazi-Diktatur aufgestiegen, erteilt er einen obskuren Befehl. In einem "H-Sonderauftrag" sollen Forscher die Hexenprozesse untersuchen. Himmlers Ziel: Eine Verschwörung gegen eine "altgermanische Kultur" zu konstruieren. Die erste Frau, die in Europa als Hexe verfolgt wird, ist eine edle Dame aus Mailand: Pierina de Bugatis wird 1384 von einem Inquisitionsgericht verurteilt und hingerichtet. Von da an werden in ganz Europa mehr als 60.000 Frauen systematisch als Hexen verfolgt und verbrannt. Gut 550 Jahre später erlässt der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, in Berlin einen Befehl, der lange Zeit Rätsel aufgibt. Die Order trägt den Namen "H-Sonderauftrag". H steht für Hexen.

Es ist Sommer 1935. Himmler hat die "Schutzstaffel" (SS), die anfangs ausschließlich als Leibwache für die Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP) gegründet wurde, zu einem eigenständigen Terrorkommando mit 200.000 Mitgliedern ausgebaut. In den darauf folgenden Jahren werden Himmlers SS-Truppen planmäßig in ganz Europa morden und in Konzentrationslagern wie Auschwitz und Treblinka systematisch foltern und töten. 1935 wollen Himmler und seine Gefolgsleute die ideologische Grundlage dafür schaffen.

Die Kirche und die Juden als Sündenböcke

Nach und nach baut der Sicherheitsdienst (SD) der SS eine systematische "Gegnerforschung" auf. In eigenen Abteilungen, aufgeteilt nach Marxisten, Freimaurern und Juden, werden Menschen observiert und denunziert. "Die Gegner des NS-Staates", schreibt Publizist Lutz Hachmeister dazu, müssen dabei "dämonischer, gefährlicher dargestellt" werden. So sollen sie als Feinde des Volkes ausgegrenzt und verfolgt werden können. Die Verschwörungstheorien, die Himmler und seine Helfer dafür konstruieren, reichen Jahrhunderte zurück - bis zu den Hexen. Sie seien verfolgt worden, um mit ihnen eine "altgermanische Kultur" auszurotten. Der Reichsführer SS wittert als Urheber die katholische Kirche und - in historisch völlig verdrehter Weise - die Juden. Der H-Sonderauftrag soll das beweisen.

14 hauptamtliche Mitarbeiter, die bald schon im Berliner Reichssicherheitshauptamt untergebracht sind, werden dafür eingestellt und durchkämmen 260 Archive und Bibliotheken, die im ganzen Land verstreut sind. Nach und nach legen sie 33.846 Akten an, alphabetisch nach Orten sortiert. Von den 3621 Ortschaftsmappen beziehen sich 3104 auf Deutschland, der Rest auf andere Länder wie Indien und Mexiko.

Eine Vorfahrin Himmlers soll eine Hexe gewesen sein

Himmler lässt sich von den Ergebnissen immer wieder berichten. Er scheint dafür auch ein persönliches Motiv zu haben. Sein Vetter, SS-Untersturmführer Willhelm August Patin, erzählt gerne, dass eine Vorfahrin Himmlers als Hexe verbrannt wurde. Ihr Name sei Passaquay. 1939 finden Himmlers Forscher tatsächlich einen Hinweis, aber auf eine andere Urahnin: Margareth Himbler wurde am 4. April 1629 in Markelsheim verbrannt. Ob Himbler eine Vorfahrin Himmlers ist? Die Beweise bleiben aus. Doch die Hexen-Pläne werden umso größer. Noch 1942 stehen auf dem Arbeitsplan der Dienststelle - Deutschland führt bereits seit drei Jahren Krieg - weitere Projekte wie eine "Studie über die geisteswissenschaftlichen Grundlagen des H-Komplexes" oder die "wirtschaftlichen Folgen der H-Prozesse". Schließlich sollen die Ergebnisse, als unterhaltsame Volksbildung getarnt, in die Nazi-Propaganda einfließen. Himmler möchte "eine ganze Menge kleinerer Hexen-Geschichten mit 60 bis 100 Seiten, die bequem in kürzester Zeit durchgelesen werden können".

Doch aus den großen Plänen wird nichts. 1944 gibt es mehr als 30.000 Akten, aber keine Auswertung. Bei Kriegsende 1945 ist der Spuk vorbei. Die Hexenkartothek gerät ins polnische Poznań, auf Deutsch Posen genannt - dorthin, wo Himmler 1943 vor SS-Führern erstmals offen aussprach, was das Ziel der Vernichtungspolitik der Nazis war: die "Ausrottung des jüdischen Volkes". In Posen gerät die Hexenkartothek in Vergessenheit. Erst dreißig Jahre später erlebt das Archiv der Hexen eine Wiedergeburt. Anfang der 1980er Jahre entdeckt Historiker Gerhard Schormann das Material in Polen und macht es bundesweit bekannt. Kopien kommen ins Bundesarchiv. Seitdem pilgern Hexenforscher immer wieder nach Koblenz, in die Zentrale des Bundesarchivs, um in den Filmkopien der polnischen Originale hilfreiche Fakten über Hexen und ihre Verfolger zu finden - mit zum Teil ernüchterndem Ergebnis.

Ein Dokument der pervertierten Logik der Nazis

"Himmlers Hexenforscher waren total auf Personalien fixiert", berichtet der Wieder-Entdecker der Hexenkartothek, Gerhard Schormann, stern.de. Die Rechercheure trugen Name des Opfers, Wohnort, Verhaftungsdaten in die Kartei. "Doch ausgerechnet die Zeugenaussagen in den Gerichtsprozessen fehlen meist - dabei sind sie für das Verständnis der Hexenverfolgung entscheidend", sagt Schormann. Denn inzwischen konnten Wissenschaftler belegen, dass die Dorfbewohner mit ihren Verdächtigungen, jemand unter ihnen sei eine Hexe, oftmals einfach ihre Konflikte austrugen. Dieses Ergebnis hätte Himmler nicht in seine krude Theorie von der katholisch-jüdischen Verschwörung gepasst. So war der H-Sonderauftrag von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zumal viele Nazi-Ermittler oft nicht in der Lage waren, die Fakten aus den verschiedenen Archiven korrekt wiederzugeben, wie ein späterer Abgleich ergab.

Trotzdem stöbern Hexenforscher auch heute noch immer wieder in der Hexenkartothek: In den Karteien erhoffen sie sich Hinweise darauf, auf welche Bücher und Abschriften sich Himmlers Ermittler berufen. So sind die Quellen leichter zu finden. Für Historiker, die nicht die Hexenverfolgung erforschen, sondern Deutschlands Diktatur von 1933 bis 1945, ist die Hexenkartothek dagegen mehr als ein erstes Hilfsmittel. Zeitgeschichtler entdecken darin die pervertierte Logik der Nazis: Mit der Jahrhunderte langen Verfolgung von Frauen wollten sie eigene Verbrechen legitimieren. So ist die Hexenkartothek doch noch eine historischer Beleg - dafür, wie schwer es ist, aus der Geschichte zu lernen.

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