Fried – Blick aus Berlin Richter und Regierung trafen sich vor dem folgenschweren Urteil: Hätten die nicht mal was sagen können?

Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner bei einem Pressestatement
Christian Lindner, Bundeskanzler Olaf Scholz und Robert Habeck geben ein Pressestatement nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021. Das Bundesverfassungsgericht hat nach einer Klage der Union den Nachtragshaushalt 2021 gekippt
© Kay Nietfeld/dpa
Die Regierung wurde vom Urteil des Verfassungsgerichts kalt erwischt. Erstaunlich eigentlich, denn eine Woche zuvor hatten sich Richter und Minister noch zum sogenannten Interorganaustausch getroffen. Da hätte man doch mal ...

Am Urteil des Verfassungsgerichts zur Schuldenbremse hat mich am meisten überrascht, dass die Regierung davon so überrascht wurde. Nicht etwa, weil ich vermutet hätte, dass Kanzler und Minister insgeheim mit schlechtem Gewissen herumliefen. Das Vertrauen in die eigene Unfehlbarkeit ist bei Olaf Scholz bekanntlich kein unterentwickelter Charakterzug. Auch Christian Lindner mangelt es hie und da an Geld, aber nie an Selbstbewusstsein.

Nein, ich war überrascht, weil das Gericht nur eine Woche vor der Verkündung bei einem Abendessen mit dem Kabinett in Karlsruhe offenkundig nicht über das bevorstehende Urteil gesprochen hatte. Eines der Themen hieß zwar "Krise als Motor der Staatsmodernisierung". Dass der Motor mangels 60 Milliarden Euro bald ins Stottern geraten könnte, haben die Richterinnen und Richtern ihren Gästen aber nicht verraten. Manche Zunge mag vom ständigen Draufbeißen ganz wund geworden sein.

Interorganaustausch lautet der liebliche Fachbegriff für solche Treffen. Weil man sich diese Verschwiegenheit im geschwätzigen politisch-medialen Berliner Raum nur schwer vorstellen kann, sind sie nicht unumstritten. Ein Strafrichter trifft sich während eines Prozesses auch nicht zum Essen mit einem angeklagten Steuerhinterzieher.

Vor zwei Jahren, es war die Zeit der Coronapandemie, stellte ein Kläger im Zuge der Verfassungsbeschwerde gegen die Ausgangsbeschränkungen einen Befangenheitsantrag gegen Gerichtspräsident Stephan Harbarth. Der hatte für ein Gespräch mit der Regierung Angela Merkels das Thema "Entscheidung unter Unsicherheiten" gewählt. Harbarth nannte das später eine "abstrakte und zeitlose Fragestellung", also nicht konkret auf Corona gemünzt. Der Befangenheitsantrag wurde abgelehnt.

Verschwiegenheit ist Pflicht

Das für die Regierung schmerzhafte Urteil zur Schuldenbremse liefert allerdings dem Verdacht nun keine neue Nahrung, das Verfassungsgericht sei nach einem fröhlichen Beisammensein gegenüber dem Kanzler und seinen Ministern befangen gewesen. Die Härte des Urteils ließe eher vermuten, dass irgendein Regierungsmitglied – womöglich selbst Jurist und die Zunge vom badischen Wein gelockert – den Richtern zu später Stunde einen Vortrag hielt, sie hätten doch sowieso keine Ahnung.

Nur abstrakt und zeitlos dürfen sich die Organe also austauschen. Dabei könnte man auf die Idee kommen, es bei so grundlegenden Fragen wie einem 60-Milliarden-Nachtragshaushalt gar nicht erst auf ein Urteil ankommen zu lassen, sondern das Verfassungsgericht vorher schon zu fragen. Das wäre immerhin eine Idee, die auch die Eltern des Grundgesetzes hatten. Nachdem das Gericht 1951 seine Arbeit aufgenommen hatte, konnte entweder der Bundespräsident oder aber Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zusammen in Karlsruhe ein Rechtsgutachten anfordern. Da hätten Ampel, Opposition und auch die Länder sich viel Ärger ersparen können. Geht aber leider nicht mehr.

Drei Rechtsgutachten erstellte das Bundesverfassungsgericht, ehe die Regelung 1956 abgeschafft wurde. In der Beschlussvorlage des Bundestages hieß es dazu lapidar, die eigentliche Aufgabe der Justiz sei "die Entscheidung von Streitfällen und nicht die Erstattung mehr oder weniger unverbindlicher Gutachten".

Schade eigentlich. Vielleicht wäre das mal ein schönes Thema für den Interorganaustausch.

Erschienen in stern 48/2023