Ist das jetzt ein Fall für den Tierschutzverein? Ziemlich bang steht die Reisegesellschaft vor dem schwarzgelben Kutschengespann. Am Fuße des klotzigen Leipziger Völkerschlachtdenkmals, von wo aus die "Sächsische Pferdepersonenpost" starten soll, wirkt das Apfelschimmel-Pärchen Frida und Frido doch arg zierlich. Leipzig-Dresden, das sind schlappe 113 Kilometer mit dem Auto. Für unsere schmalbrüstigen Pferde aber heißt das, vier Tage lang ein 1,8 Tonnen schweres Gefährt zu ziehen. Kutscher Siggi Händler beruhigt: Frido und Frida müssten am Tag höchstens 45 Kilometer schaffen, und alle eineinhalb Stunden sei ihnen eine Pause vergönnt. Hafer vom Feinsten bekämen sie auch. Außerdem gebe es nach zwei Tagen die Ablöse durch Wilas und Kläre - kräftige, sächsische Warmblüter. 47 Postkutschenlinien hatten Anfang des 18. Jahrhunderts ihren Ausgangsort in Leipzig, verbanden die Stadt mit Nürnberg, Hamburg, Paris, Rom, Warschau, Wien. Dass wir jetzt mit solch einer Postkutsche nach Dresden rollen werden, ist einer typischen Stammtisch-Idee zu verdanken. Als zwei arbeitslose Sachsen, Jurist der eine, Bauingenieur der andere, ihre Lieben daheim anriefen und ihnen kundtaten, dass sie die alte Kutschenlinie Leipzig-Dresden wieder beleben wollten, hörten sie bloß: "Werdet erst mal nüchtern!" und dann das Freizeichen. Unverdrossen tüftelten die Mittfünfziger ein Jahr lang an der Route Leipzig, Grimma, Mügeln, Ostrau, Lommatzsch, Meißen, Radebeul, Dresden; von den alten Poststraßen waren nur knapp 40 Prozent zu befahren, für den Rest der Strecke, heute die rasante Bundesstraße 6, mussten beschaulichere Wege gefunden werden. Tilo Prokosch und Andreas Tetzner kratzten damals ihr Erspartes zusammen und ließen schließlich die neunsitzige "Sächsische Pferdepersonenpost" nachbauen. Damit es den Reisenden nicht ergeht wie dem Dichterfürsten Friedrich Schiller, der 1785 nach eigener Aussage "zerstört und zerschlagen" in Leipzig ankam, wurde sie um 60 Zentimeter länger und breiter gebaut. Für mehr Sicherheit kamen TÜV-würdige Scheibenbremsen und Blinkleuchten hinzu.
Los geht's. Erst einmal durch die Vorstädte von Leipzig. So langsam, dass man meint, den Blümchen am Wegesrand beim Auf- und Verblühen zusehen zu können. Die Autoschlange hinter uns wird immer länger. Aber die Lenker gucken bloß amüsiert, die Passanten winken oder greifen nach dem Fotoapparat. Und ziemlich schnell befleißigen sich die Passagiere eines huldvollen Prinzessinnen-Gewinkes fürs Volk da draußen. Sechs Fahrgäste machen diesmal die Tour. Neben dem stern-Team beteiligen sich Rosemarie und Helmut Pelk, Rentner aus Frankfurt an der Oder; sie gönnen sich die historische Fahrt zu ihrem 40. Hochzeitstag. Den Tankstellenpächtern Rüdiger und Petra Vogel aus dem Erzgebirge ist die Postkutschen-Annonce in ihrem Ortsblättchen aufgefallen. Vor jeder Etappe weist Postillion Tilo Prokosch auf die Besonderheiten des vor uns liegenden Streckenabschnitts hin. Mit ganz "weeschn Gonsonanden" macht er uns klar, dass eigentlich von allem, was es auch sei, das Älteste, Größte, Bedeutendste und Allererste aus Sachsen komme. In seiner nachgeschneiderten Uniform und mit seiner Dienstfertigkeit erinnert Tilo an den braven Soldaten Schwejk.
Die ersten Stunden rollen wir über den blutdurchtränkten Boden der Völkerschlacht von 1813, durch die Napoleon Bonapartes Gewaltherrschaft über Europa entscheidend geschwächt wurde. Nachdenklich greift Rosemarie Pelk in die "Bordapotheke" und stabilisiert sich mit einem Fläschchen Apfelkorn. Nach den Schlachtfeldern zuckeln wir in Richtung Grimma durch eine Art Martin-Luther-Erinnerungsgebiet. Vorbei geht es an Luther-Eichen, Luther-Linden, Luther-Buchen, am verfallenen Antoniterkloster aus dem Jahr 1490, in dem der Kirchenreformator übernachtet haben soll auf seiner Reise von Erfurt nach Wittenberg. Es ist Mittag. Wir haben Hunger. Kein Gasthof weit und breit. Aber es gibt köstliche Äpfel von uralten Bäumen.
Postkutschenfahren ist Blind Date für vier Tage. Da kann man Glück haben und eine vergnügliche Zeit miteinander verbringen. Was aber, wenn ein Kotzbrocken einem vier Tage die Ohren vollquasselt? Oder ein noch so liebes Kind von der fürsorglichen Mama von früh bis spät "Räuber Hotzenplotz" vorgelesen bekommt? Man könnte die Kutsche ja auch als Gruppe buchen, aber wir würden schon sehen, es hätte seinen Reiz, sich auf unbekannte Sitznachbarn einzulassen, hatte uns der Postillion ermuntert. Vier Tage lang im Rhythmus des Pferdegetrappels vor sich hinzuschaukeln und eine relativ undramatische Landschaft an sich vorbeiziehen zu lassen - Wälder, Felder, Obstplantagen - mache die Gedanken frei. Und fördere die Kommunikation. Es ist wahr, am zweiten Tag sind alle Arbeitsplatz- und Familienprobleme der Mitreisenden erörtert. Man hat gelernt, geduldig zuzuhören, aber auch in aller Freundschaft zu sagen, dass es schön wäre, wenn Rüdiger und Helmut ihre Endlosdebatten über die Aufstiegschancen ihrer Fußballvereine unterbrächen und einfach mal mucksmäuschenstill die Gegend betrachteten. Seit die Kutsche allwöchentlich von Donnerstag bis Sonntag das Nordsachsenland durchrollt, sind vor allem kleinere Gemeinden mit ihren - soweit noch vorhandenen - Hotels, Gasthöfen und Heimatmuseen wie elektrisiert. Sie empfangen die Kutsche mit den Reisenden wie einen Staatsbesuch. Da verkleidet sich der Hotelier als Martin Luther und schildert uns die herzergreifende Liebesgeschichte der Katharina von Bora, die aus einem nahe gelegenen Kloster flüchtete und später den großen Kirchenreformator heiratete. Der Bürgermeister von Mügeln empfängt uns im Rathaus, und ein historisch gewandeter Stadtkämmerer führt durch die Gassen. Auf dem ehemals größten Schmalspurbahnhof Europas wird zu Ehren der Postkutsche eine Dampflok des Jahres 1912 aus dem Schuppen geholt. In Naunhof werden für uns die ältesten Turmuhren des Landes zum Klingen gebracht.
All diese historischen Schätze können allerdings mit der Touristenattraktion Nummer eins nicht mithalten. Ob in Grimma, Mügeln, Meißen, Dresden, der Reisende wird mit erhobenem rechten Arm begrüßt, was ganz und gar nicht Heil Hitler, sondern "sooo hoch ist das Wasser im August 2002 gestiegen" heißen soll. Wir schaudern gebührend und freuen uns mit den Flutgeschädigten, wie schön wieder alles renoviert ist. Die Nachtquartiere sind stilecht und gemütlich. Wir schlafen in umgebauten Klosterstallungen aus dem 16. Jahrhundert, auf einem restaurierten Gutshof mit Reitpferden und Badeteich und in einem alten Gasthof an der Elbe mit Blick auf die Burg von Meißen. Zu jedem Abendessen erwarten den Gast üppige Dreigängemenüs. Es wird viel gelacht und dem würzigen sächsischen Goldriesling zugesprochen. Bildungsurlaub ist es nur am Rande. Dazu bleibt bei aller Gemütlichkeit zu wenig Zeit. Wer mehr von Leipzig und Dresden sehen will, sollte ein paar Tage vor und nach der Reise erübrigen. Auf der sächsischen Weinstraße traben wir in die Zielgerade. Mit einem Stopp im touristischen, aber gemütlichen Weindörfchen Altkötzschenbroda. Hier gibt es den Kötzschber, einen leichten Weißwein, den, wie könnte es anders sein, schon Luther getrunken haben soll. Und Sonntagnachmittag um halb vier heißt es: Endstation Dresden, Theaterplatz. Schön war's. Was wird von unserer Zeitreise hängen bleiben? Rosemarie Pelk: "Die Birnbaum-Alleen." Ihr Mann Helmut: "Die Quartiere und das Essen." Petra Vogel: "Der Bürgermeister von Mügeln." Rüdiger: "Das weite Land." Schreiberin und Fotografin: "Vier Tage Säggssch, das franst die Ohrläppchen aus." Aber wir alle sind uns einig: Dieser Ausflug hat uns Sachsen näher gebracht.