Die letzten zwei Tage haben wir in der Weddellsee verbracht, die auf der Ostseite der Antarktischen Halbinsel liegt. Selbst im Hochsommer ist hier noch viel Eis, so dass ein Gelingen der Anlandungen nicht immer garantiert ist. Aber es lohnt sich, denn es gibt hier gewaltige Kolonien des Adeliepinguins. Hautnah haben wir am Leben dieser kleinen Frackträger teil genommen.
Auf Paulet Island werden wir von der schieren Anzahl der Jungvögel überwältigt: Über 200.000 Brutpaare ziehen ein- oder zwei Jungvögel groß, die ständig nach Futter betteln. Jetzt, im Alter von sechs Wochen, laufen sie den Eltern hinterher, die mit Nahrung die Hänge rauf und runter flitzen. Es erscheint zunächst widersinnig, dass die Altvögel vor ihren Küken davon rennen, um sie später dann doch zu füttern, doch die Sache hat Methode. Mit Hilfe dieser sogenannten "feeding chases", also Fütterungsverfolgungen, können die Altvögel zunächst überprüfen, ob ihre Verfolger überhaupt ihre eigenen Küken sind.
Kuckuckskinder werden aussortiert
Immer wieder rennen bis zu fünf Küken einem Altvogel hinterher, bei einer maximalen Brutgröße von zwei kann da was nicht stimmen. Durch die Bettelrufe entlarven sich die familienfremden Küken jedoch zunehmend selbst. Zusätzlich können die Eltern entscheiden, welches Küken sie zuerst füttern, da die hungrigen ganz besonders auf den Fersen der Altvögel sind. Schließlich endet die Verfolgungsjagd damit, dass der Elternvogel stoppt, sich seinem Verfolger widmet und die auserwählten Küken mit Krillpaste füttert. Tief im Rachen des Altvogels verschwindet der Schnabel des Jungvogels, um den hoch gewürgten Brei zu schlucken. Die Krillpaste sieht aus wie rosa Straciatella-Eis; die Augen der Krillkrebse sind als schwarze Punkte klar zu erkennen.
Bei soviel hungrigen Mäulern müssen die Adelies ständig wieder raus aufs Meer um Futter zu suchen. Am Kiesstrand von Joinville Island können wir das Schauspiel direkt mit erleben. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Dort, wo noch Schnee liegt, haben die Pinguine tiefe "Autobahnen" in den Schnee geschritten, die durch ihren Kot pink geteert sind. Es lohnt sich für die Pinguine, diesen beschwerlichen Aufstieg über bis zu 300 Höhenmeter nahezu täglich in Kauf zu nehmen, da die exponierten Steilhänge als erste im Frühjahr schneefrei werden. Wie sie mit ihren kleinen Stummelbeinen die Steilhänge und Schneefelder in Angriff nehmen, ist schon eine unglaubliche Leistung. Die am Strand angekommenen sammeln sich in Gruppen, teilweise sogar auf küstennahen Eisbergen, bevor sie sich in das zwei Grad kalte Wasser stürzen. Sie scheinen offensichtlich nervös zu sein und keiner will als erster ins Wasser. Der Grund taucht plötzlich mit seinem riesigen Kopf auf: ein Seeleopard. Diese Robbenart patrouilliert die Gewässer vor Pinguinkolonien auf Beutezug. Allein schwimmende Pinguine haben ein viel höheres Risiko, attackiert zu werden.
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Der Seeleopard ist keine pinguinfressende Bestie
Um an dieser Stelle gleich ein Lanze für den Seeleoparden zu brechen: Er ist kein, wie vielfach angenommen, reiner Pinguinfresser. Seine Nahrung besteht zu zirka 50 Prozent aus Krill, aber einen Adeliepinguin verschmäht er natürlich nicht. Für einen unserer kleinen Freunde hat dann tatsächlich die letzte Stunde geschlagen, er wird vom Seeleoparden zerfetzt. Die Robbe schlägt den toten Pinguin immer wieder aufs Wasser, um die Haut vom Fleisch zu trennen. Wir denken zurück an die fünf Küken, die einem Adeliepinguin beharrlich hinterher rannten und uns wird klar, dass es durchaus sein könnte, dass einige deswegen so hungrig sind, weil sie einen Elternteil an den Seeleoparden verloren haben.
Die allermeisten Küken sind aber keine Halb- oder Vollwaisen und beginnen, die Daunenfedern zu verlieren. Es ist auch Zeit, müssen sie doch nach Norden schwimmen, bevor der Herbst das erste Packeis bringt; dies kann schon in sechs Wochen der Fall sein. In der Kolonie auf Brown Bluff sind die Küken im Schnitt schon eine Woche älter und viele haben nur noch wenig Daunengefieder. Damit sind sie fast für ihren ersten Tauchgang gewappnet. Aber selbst wenn sie es schaffen, einen großen Bogen um den Seeleopard zu machen, nur ca. 40% werden das erste Jahr überleben. Neben Seeleoparden fordern Krankheiten ihren Tribut und fehlende Jagderfahrung lässt viele schlicht verhungern. Uns haben die kleinen Adelies mit ihrer Emsigkeit und Ausdauer auf jeden Fall gewaltig imponiert.
Morgen geht's weiter nach Deception Island und Paradise Bay. Und wir werden über Eisberge berichten und hoffen auf Sonnenschein.
Schiff ahoi,
Ihr Oliver Krüger und Michael Poliza