Schwarze Plastiksäcke. Überall schwarze Plastiksäcke. Ein Jahrzehnt nach dem Erdbeben in Fukushima, dem Tsunami und der darauf folgenden Atomkatastrophe stapeln sie sich noch überall. Darin enthalten: mehrere Schichten radioaktiv-verseuchter Erde und Schutt. Heute jährt sich das nukleare Desaster schon zum zehnten Mal und noch immer ist keine befriedigende Lösung für diesen Atommüll gefunden. Stattdessen ist er über die gesamte Präfektur Fukushima verteilt, wo sich mal mehr, mal weniger dieser Säcke am Straßenrand, im Wald und auf Feldern stapeln.
Am 10. Juli 2020 mieten wir ein Auto. Wir – drei Studierende aus Europa, die ein Auslandssemester in Japan verbringen. Wir möchten wissen, wie es heute in Fukushima aussieht, wie es den Menschen geht und in welchem Zustand die Gegend heute ist. Katastrophentourismus kann man uns jetzt unterstellen – die japanische Regierung nennt es "hope tourism", Hoffnungstourismus. Sie möchte damit möglichst vielen Einheimischen und Touristen beweisen, wie sicher die Gegend inzwischen ist. Mulmig ist uns trotzdem, als immer öfter Geigerzähler über der Straße auftauchen, je weiter man in die Präfektur hinein und in Richtung des zerstörten Kernkraftwerks Fukushima Daiichi fährt.
Geigerzähler messen die Strahlenbelastung in der ganzen Präfektur
Die Zahlen auf einem schwarzen LED-Bildschirm über der Straße blinken auf. 1, 2, 5 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h). In Deutschland beträgt die durchschnittliche Strahlenbelastung circa 0,2 µSv/h, sagt das Bundesamt für Strahlenschutz.
Den Großteil der japanischen Straßenschilder können wir nicht lesen. Von dem eigentlich sehr touristenfreundlichen Land merkt man in dieser Gegend nichts. Würden da tatsächlich explizite Warnhinweise stehen – wir wären aufgeschmissen, trotz vorhandener Sprachkenntnisse. Auch deshalb fahren wir nur dorthin, wo andere Autos fahren. Nirgends verlassen wir die festen Straßen, fahren an unzähligen Absperrungen vorbei und öffnen nicht einmal die Fenster. Dabei reden wir uns ein, dass das eine mögliche Strahlung zumindest nicht erhöht.

Als wären die Bewohner gerade erst gegangen
Trotz unserer diffusen Angst sind wir immer wieder abgelenkt durch die Landschaft. Ganze Felder mit schwarzen Müllbeuteln wechseln sich ab mit absoluter Einöde – 500 Meter weiter wieder eine zerstörte Tankstelle oder ein verlassener Convenience Store, eine Art Mini-Markt, die in Japan an jeder Ecke stehen.
Einer dieser Stores ist noch komplett eingerichtet, sogar die Getränkedosen und Kühlschrank-Snacks kann man von der Straße aus durch das Fenster erkennen. In einem heute noch unbewohnten Dorf einige Kilometer von Fukushima Daiichi entfernt, steht ein verlassenes Modegeschäft, das nicht zerstört und noch vollständig eingerichtet ist. Vieles wirkt, als wären die Besitzer gestern erst gegangen und könnten jederzeit zurückkehren. Sogar die Schaufenster sind noch dekoriert. Doch alles ist radioaktiv verseucht.
Arbeiter mit Schutzanzug tragen die verseuchte Erde ab
Die Zahlen auf dem schwarzen LED-Bildschirm über der Straße blinken wieder auf. 18,75 Mikrosievert pro Stunde, der bisher höchste Wert. Das reicht uns.
Seit März 2017 gilt ein Großteil der Gegend in der Präfektur Fukushima wieder als bewohnbar, trotzdem kehren nur wenige Menschen dauerhaft zurück. Die meisten haben hier keine Existenzgrundlage, weder Häuser noch Arbeit, vieles ist noch immer zerstört. Zudem haben die Menschen Angst vor der Strahlenbelastung.
Fast 340 Quadratkilometer, eine Fläche größer als die Hansestadt Bremen, sind noch unbewohnbar. Trotzdem spricht Masao Uchibori, der Gouverneur von Fukushima, auf einer Pressekonferenz im Februar 2021 von "Licht und Schatten", berichtet die Deutsche Welle. "Zum Licht gehört, dass das Strahlungsniveau gesunken ist. Wir haben dekontaminiert, heute sind nur noch 2,4 Prozent der Präfekturfläche gesperrt", so Uchibori. "Auf der Schattenseite ist zu sagen, dass 37.000 frühere Anwohner noch immer nicht zurückkehren können."
Den Reaktor aufzuräumen, könnte noch 30 Jahre dauern
Trotzdem gibt der Gouverneur auch zu: Man ist erst am Anfang. Tokyo Electric Power Co. (TEPCO), der Betreiber des Atomkraftwerks, rechnet mit rund 30 Jahren, bis die Anlage vollständig aufgeräumt ist. Bis der Brennstoff geborgen, die Reaktoren demontiert und das kontaminierte Kühlwasser von der Kernschmelze entsorgt sind.
Nur langsam kehren Menschen zurück. Eine Reiseagentur beispielsweise führt Touristen zu diesen Bewohnern. Zu Menschen, die trotz ihres Traumas durch die Katastrophe vor zehn Jahren wieder in diese Gegend zurückgezogen sind und sich eine Lebensgrundlage aufbauen. Ein Gärtner, der die frische Erde für ein Gewächshaus nutzt. Ein Bauer, der verstrahlte Tiere aufgenommen hat, die von ihren geflohenen Besitzern zurückgelassen worden sind. Betreiber von japanischen Bädern (Onsen), die diese jetzt wiedereröffnen. All das macht Hoffnung, hat es den Namen "Hoffnungstourismus" vielleicht doch verdient? Diese Tour hätten wir vergangenes Jahr gerne gemacht, durch Corona war es jedoch nicht möglich, wir mussten stattdessen alleine los.
Die Idylle erscheint grotesk
Wir fahren aus dem ehemaligen Sperrgebiet in Richtung der Stadt Fukushima, fast 90 Kilometer vom Reaktor entfernt. Je weiter wir uns entfernen, desto stärker wächst unser Sicherheitsgefühl.
In der Stadt fahren wir zu einer Aussichtsplattform mit Blick über die Region. Die Idylle wirkt grotesk – ein krasser Gegensatz zu den vom Erdbeben und Tsunami zerstörten Gebäuden und den verstrahlten Landstrichen, die wir zuvor an unserem Autofenster vorbeiziehen lassen. Das Einzige, was auch auf diesem Parkplatz an die unsichtbare Gefahr erinnert, ist ein schwarzer LED-Bildschirm. Er blinkt auf: 0,15 Mikrosievert pro Stunde.
Quellen: "Deutsche Welle"/ "Science Mag" / "Abroad Japan" / "The Japan Times" / "Bundesamt für Strahlenschutz"