Der alte Priester ist fast nackt. Er trägt nur ein weißes Tuch, das ihm von der Hüfte bis zu den Knien reicht. Im Halbdunkel hockt er in einer Ecke des Sri- Minakshi-Tempels in der südindischen Stadt Madurai, seine Augen sind geschlossen. Sein nackter Oberkörper wippt fortwährend vor und zurück, dabei rezitiert er lautstark ein Mantra.
Ihm gegenüber sitzt Herr Raviehandran. Andächtig lauscht er dem Singsang des Alten. Er ist ein studierter, einflussreicher Mann in der Stadtverwaltung, das sieht man schon an seiner Anzughose. Fast täglich kommt er in den Tempel, um zu beten. Heute möchte er, dass der Hindu-Priester mit der traditionellen Zeremonie die Seele des kürzlich verstorbenen Bruders beruhigt.
Plötzlich klingelt das Handy des Priesters. Herr Raviehandran und die Seele des Bruders müssen nun warten, es gibt eine Familienangelegenheit zu regeln, und so etwas dauert eben, selbst in spirituellen Haushalten.
Während Herr Raviehandran auf die Fortsetzung der Mantra-Litanei wartet, strömen ohne Unterlass Pilger vorüber. Mehr als 10 000 Gläubige besuchen die sechs Hektar große Tempelanlage jeden Tag. Sie meditieren, beten oder versuchen die Götter mit Opfergaben gütig zu stimmen.
Erinnerung an vergangene Macht
Nichts erinnert an die gedämpfte Atmosphäre westlicher Kirchen. Indische Tempel sind eine Mischung aus Heiligtum, buntem Jahrmarkt und geschäftigem Bazar. Händler verkaufen Opfergaben - Reistüten, Bananen, Lotusblüten, Kokosnüsse. Ein paar Schritte weiter findet man schreiend bunte Skulpturen von Shiva, Krishna und anderen Göttern und Halbgöttern. Es riecht nach Räucherstäbchen, frischem Jasmin und Schweiß. An jeder Ecke ist das Gemurmel von Betenden zu hören.
Kein anderer Bundesstaat hat so viele Gotteshäuser und einen derart reichen Festtagskalender wie Tamil Nadu. Mehr als 52.000 Hindu-Tempel gibt es in der Region. Einige, wie die kunsthistorisch bedeutenden Anlagen im Küstenort Mamallapuram oder in der ehemaligen Königsstadt Thanjavur, entstanden zwischen dem siebten und zehnten Jahrhundert und lassen noch heute den Glanz und die Macht untergegangener Dynastien ahnen.
Am Strand von Mamallapuram legte im Dezember 2004 die Wucht des Tsunami drei knapp zwei Meter große Felsen frei. In die Steine sind ein Elefantenkopf, ein Löwe und ein fliehendes Pferd geschlagen. Archäologen vermuten, dass sie zu einer vor langer Zeit im Meer versunkenen Hafenstadt gehören.
Gut 60 Millionen Einwohner zählt der Bundesstaat, seine Küstenlinie erstreckt sich mit vielen Stränden über fast 2000 Kilometer. Im Landesinneren öffnen sich asiatische Bilderbuchlandschaften mit Palmen, saftig-grünen Reisfeldern und Wasserbüffeln. Hier findet man Ashrams, Yoga- und Ayurvedazentren mit internationalem Zulauf. Im Westen liegen Dschungelgebiete und Nationalparks, durch die Elefanten, Bären und Tiger streifen. Die 2600 Meter hohe Nilgiri-Bergkette bietet Wander- und Klettermöglichkeiten.
Doch Tamil Nadu macht es seinen Besuchern nicht leicht. Wer für sein Wohlbefinden ständig westlichen Standard braucht, wird sich nicht wohlfühlen. Es ist ein Ziel für Neugierige. Für Reisende, die sich nicht nur für Altertümer, sondern auch für den Alltag interessieren, die sich einlassen wollen auf eine andere Kultur, die das Fremde nicht fürchten, die verstehen wollen, ohne zu verurteilen.
Ein Spaziergang durch die Innenstadt Madurais rund um den Tempel führt geradewegs hinein ins Herz des chaotischen indischen Alltags. Es ist drückend heiß, und die Straßen sind überfüllt mit Menschen. Überall Krämerläden, Teestuben und Verkaufsstände, die ihre Stoffe, Töpfe, Kleider, Obst, Gemüse auf den Bürgersteigen ausbreiten. Blumenhändler verkaufen Ketten aus Jasmin- und Rosenblüten, deren Duft noch lange in der Nase bleibt. Am Straßenrand stöbern nur wenige Schritte entfernt drei Kühe in einem Müllberg.
Es stinkt nach Kloake. Ein Stück weiter versöhnt der Geruch von Curry, Kardamom und frischem Tee. Zwei Frauen wählen mit ihren Töchtern bestickte Seide für ihre Saris. Dazwischen liegen Bettler auf dem Fußweg.
Innerhalb kürzester Zeit ist der Fremde umringt von Kindern, die auf ihre Bäuche und Münder deuten und die Hand aufhalten. Der Tourist schüttelt energisch den Kopf und versucht, die Meute abzuwehren.
Er hat die Tipps in den Reiseführern gelesen. Er weiß, dass er hier nichts geben soll, weil das nur zu weiterer Bettelei führt. Stattdessen, so heißt es, möge er lieber zu Hause für karitative Organisationen spenden, die in Indien den Armen helfen. Aber nun steht er hilflos vor den Kindern. Er ist satt. Sie haben Hunger. Er ist gut gekleidet und hat Wasser. Sie tragen Lumpen und haben Durst. Er greift in die Tasche, holt ein paar Rupienscheine hervor und gibt sie den Kleinsten. Da er nicht genug für alle hat, kommt es fast zu einer Prügelei.
Zwischen Tudor-Villen und Teeplantagen
Nur in den Bergen von Tamil Nadu findet der Reisende etwas Ruhe und auch kühleres Klima. Hier haben schon vor 200 Jahren die Briten Schutz vor den gnadenlosen Sommern gesucht. Der größte diese Kurorte ist das fast 2300 Meter hoch gelegene Ooty. Wo auf anderen Breitengraden in dieser Höhe kaum noch etwas wächst, gedeiht hier eine üppige Vegetation tropischer und subtropischer Pflanzen. Die Wege führen durch von den Engländern angelegte Zypressen- und Eukalyptuswälder, es wachsen Palmen, Kakteen, Rosenbüsche und Stiefmütterchen am Straßenrand.
Die Kolonialzeit hat nicht nur in der Vegetation bis heute viele Spuren hinterlassen. Es gibt noch einen Golfplatz, den ehemaligen britischen Club, mehrere imposante christliche Kirchen, zahlreiche Villen im Tudor- oder englischen Landhausstil und natürlich Teeplantagen. Die Nilgiri-Berge gehören neben Darjeeling zu den wichtigsten Teeregionen Indiens.
Das satte Grün der Teebüsche reicht bis zum Horizont. Es liegt wie ein dichter, gemusterter Teppich auf den Hängen und in den Tälern, nur selten unterbrochen von ein paar Häusern, in denen die Teepflücker leben. Dazwischen ragen Schatten spendende Bäume hervor, fließen Flüsse, plätschern kleine Wasserfälle. Es ist so still, dass ihr Rauschen noch in weiter Ferne zu hören ist. Wie bunte Farbtupfer stehen vereinzelte Gruppen von Männern und Frauen in den Feldern und pflücken Teeblätter. Jeder Fremde ist hier sofort das Objekt herzlicher Neugier. Erfreut über die Abwechslung, versuchen sie ein Gespräch. Ihre Arbeit beginnt morgens um acht, so erzählen sie, und endet am späten Nachmittag. Der Lohn für die Plackerei liegt bei umgerechnet 1,50 Euro am Tag.
Später, im Büro des Verwalters, klagt der Manager darüber, wie schlecht das Geschäft sei. Gerade mal einen halben US-Dollar bekommt er für ein Kilo Tee. "Die Globalisierung macht uns kaputt. Die Chinesen überschwemmen den Weltmarkt mit ihrem Tee. Sie zahlen viel geringere Löhne und keine Sozialleistungen."
Die schönste Oase Tamil Nadus liegt am Meer, knapp drei Autostunden von der Hauptstadt Chennai entfernt, dem ehemaligen Madras. Pondicherry war bis 1954 französische Kolonie. Selbst während der britischen Herrschaft regierten hier die Franzosen und haben der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Die Straßen heißen Rue Dumas oder Rue Romain Rolland. Restaurants servieren neben hervorragendem indischem Essen auch Baguette und köstliche Croissants. Die Innenstadt durchziehen breite Alleen voll prächtiger Villen im französischen Kolonialstil.
Im Straßenbild fallen die vielen Ausländer auf, die per Fahrrad oder Motorroller ganz entspannt durch die Stadt kutschieren. Sie gehören zum 1926 gegründeten Ashram des indischen Philosophen und Yoga-Gurus Sri Aurobindo. Unter seinen Jüngern sind viele Deutsche, die in den 60er und 70er Jahren hierhin ausgewandert sind. Einer von ihnen ist Günter Fellner. In seinem früheren Leben war er Doktor der Physik und Mathematik. Er wurde 1969 zum Aussteiger, fuhr kurz entschlossen nach Südindien, "auf der Suche nach dem Sinn des Lebens". Die Lehren Sri Aurobindos haben den ehemals überzeugten Atheisten tief geprägt. Fellner lebt bescheiden. Er radelt jeden Morgen zum Strand, geht eine Stunde spazieren, anschließend schwimmen und meditiert vier Stunden. Er ist 87 Jahre alt und lacht und strahlt wie ein junger Mann, der das Leben noch vor sich hat. "Hier habe ich entdeckt, wonach ich suchte", sagt er, und seine Augen leuchten. "Freude am Dasein. Freude. Grundlose Freude."
Auch die kann der Reisende finden, in Tamil Nadu.