
Brandenburg: Der Welt enthoben
Ein Kinderspiel bloß, natürlich: Wer sieht den ersten Kahn auf der Oder? Wer die ersten Schafe auf dem Deich? Und wer die ersten weiß-roten Grenzpfähle, drüben, am anderen Ufer, in Polen? Ich spiele das seit Jahren, wenn ich mit Familie oder Freunden die ersten Kilometer auf dem Oder-Neiße-Radweg fahre. Es ist mein Kniff, um die Sinne zu dimmen und diesen Weltenübergang zu schaffen: Lärm und Lichter der Großstadt zu vergessen und die verwegene Schönheit des Oderbruchs wahrzunehmen. Unter der Woche kann es vorkommen, dass man stundenlang radelt und keinem Menschen begegnet. Ein Rätsel, denn die Landschaft ist eine Wucht. Tiefgrüne Wiesen auf der westlichen Seite des Deichs, ein Gezirpe und Gequake in den Auen auf der östlichen Seite zum Fluss hin. Frühmorgens steht Dunst über dem Wasser und den Wiesen. All dies kann man erleben auf dem Weg von Frankfurt/Oder nach Schwedt, einem Teilabschnitt des 630 Kilometer langen Oder-Neiße-Radwegs. Es braucht eine große Satteltasche für Proviant, denn Gasthäuser gibt es auf meiner Strecke wenige. Das wohl schönste ist das Café im Hafen von Groß Neuendorf, das in einem stillgelegten Verladeturm (o.) untergebracht ist. Übernachten kann man im benachbarten Maschinenhaus. Wer eines der Eckzimmer bucht, hat einen weiten Blick über die Oder: Man sitzt am Fenster und sieht Lastkähne vorbeiziehen. Über ihrem Heck ein Schwarm von Störchen, die hoffen, dass ihnen die Schiffsschraube eine Fischmahlzeit hochwirbelt (Christian Ewers)
© Mario Weigt / Anzenberger