Es ist angerichtet in der Hexenküche von Michelin. Ein Schälchen mit Harz, ein Becherchen Öl, eine Prise Kohlenstoff, etwas Kieselsäure, haarfeiner Stahldraht und Kautschuk aller Sorten natürlich. 220 Zutaten insgesamt - und dazu die erste Lektion: "Bei Reifen spricht man von Rezepturen, nicht bloß von Gummi."
Auf anderthalb Kilometer Länge dehnt sich das Michelin-Werk in der Innenstadt von Clermont-Ferrand aus, nicht gerade architektonischer Zeitgeist, aber die weltberühmte französische Reifenfirma hält seit den zwanziger Jahren die halbe Auvergne am Leben. In Abschnitt C2, Abteilung Hochleistungsreifen, wird das Industriedenkmal lebendig. Die Halle ist, logisch, ein Hochsicherheitstrakt. Hier entsteht der Gummi gegen Schumi. Pardon, die Rezeptur.
Bei 170 Grad köchelt die Grundmasse, wird nach dem Abkühlen flachgewalzt und in schmale Streifen zerlegt, dann Lage um Lage von Hand auf eine rotierende Trommel gespannt. Die Winkel müssen exakt eingehalten werden. An Kleiderhaken baumelnde Tafeln schreiben den Arbeitern die Prozedur vor, die sich je nach Reifen manchmal stündlich ändern kann. Nähern sich fremde Augen, werden die Schilder schnell umgedreht, obwohl nur Geheimcodes draufstehen. Man weiß ja nie. Am Ende klappt die Trommel hoch, und ab geht es in den Vulkanisator; eine Art großes Waffeleisen. Zwölf bis 25 Minuten lang bekommen die Reifen bei hohem Wasserdruck und einer Temperatur von bis zu 300 Grad ihr Profil. Chemische Reaktion inklusive - aus dem plastischen Werkstoff wird ein elastischer.
In seinem Leben hat Pierre Dupasquier, 66, nur zwei Jobs gemacht - Kampfjets fliegen und Reifen bauen. Er ist sozusagen der Küchenchef hier. In das angriffslustige Gesicht des Michelin-Sportdirektors haben sich viel mehr als jene vier Rillen eingegraben, die der Automobilweltverband für die Rennreifen vorschreibt. 2001 kam Michelin zurück in die Formel 1, jetzt greift die französische Evolution. Diese aufgeblasenen Dinger, denen außer im Winter kein Autofahrer Bedeutung schenkt, entscheiden 2003 die WM. Zumindest machen sie die Formel 1 so spannend wie schon lange nicht mehr.
Da baut Ferrari also das beste Rennauto aller Zeiten, hat den besten Fahrer - und trotzdem ist nach dem Hitzerennen in Hockenheim die Titelverteidigung erheblich in Gefahr. Wenn die Temperaturen klettern, fühlen sich die Michelins besonders wohl. "Es ist unglaublich", sagt Michael Schumacher, "wie viel Zeit man mit den richtigen Reifen gewinnen kann." Oder verlieren. In Hockenheim hat ausgerechnet ein Platten Schumachers spektakuläre Aufholjagd auf Juan Pablo Montoya gebremst. Die Rache eines verkannten High-Tech-Produktes. Formel 1 ist eben nicht nur BMW-Williams und McLaren-Mercedes gegen Ferrari, sondern auch Michelin gegen Bridgestone. Dessen Entwicklungschef Hiroshi Yasukawa, 53, hatte den Vollzug von fünf Titeln hintereinander nach Tokio melden können. Kunststück, als jahrelanger Monopolist. Doch die Stirn von Hiroshisan bekommt langsam eine Profiltiefe wie bei Dupasquier. Kummerfalten, eindeutig.
Von Strecke zu Strecke wechseln die Vorteile der einzelnen Fahrzeug- und Reifenpaarungen. Immer dann, wenn die Kurven langsamer sind, haben die französischen Walzen ein Heimspiel. Die nächsten beiden Haftprüfungstermine in Budapest und Monza gehen von der Theorie her an Michelin. Das gilt zum Teil für Indianapolis, in jedem Fall beim Finale in Suzuka. Überschlägig könnte das Ferrari den WM-Sieg kosten.
Die erfolgsentwöhnten Ferraristi tun sich angesichts eines offenbar gut dotierten Exklusivvertrages und der Ehrpusseligkeit der Japaner schwer mit offener Kritik. Schon Schumachers diplomatische Formulierung "Am Auto lag es nicht" nach dem Debakel in Monaco sorgte für eine Beziehungskrise. Wenn der Paradepilot die Reaktionsfähigkeit Bridgestones lobt, ist das in Wahrheit eine verschlüsselte Drohung: Da werden Köpfe gefordert. In der letzten Woche vor dem Testverbot bis September spulte allein Ferrari mit vier Fahrern auf drei verschiedenen Rennstrecken knapp 4000 Probekilometer ab. Bridgestone ließ 20 neue Konstruktionen ausprobieren. Schon gewann Rubens Barrichello überlegen in Silverstone, und nur die chaotischen Umstände verhinderten einen besseren als den vierten Platz von Michael Schumacher.
Nach dem Debakel von Hockenheim herrscht wieder Alarmstufe Rot. Michelin hat auch den Bridgestone-Vorteil, die konstanteren Pneus zu liefern, egalisiert. Jacques Villeneuve, Pilot im BAR-Team, ätzte in "auto, motor und sport": "Wir sind konstant langsam." Damit Schumacher und Ferrari im Endspurt nicht ganz die Luft ausgeht, wird Bridgestone die letzten Reserven mobilisieren. Verzweifelt versuchen die Aerodynamiker in Maranello, durch neue Spoileranordnungen mehr Grip zu erzeugen. So dreht sich der Reifen-Reigen immer schneller im Kreis.
Es ist eine riesige Marketingschlacht. Angeblich 100 Millionen Dollar pumpen die Konkurrenten pro Jahr in die Entwicklung von Reifen, die kaum eine halbe Stunde halten. Inzwischen erwägen auch die Goodyear-Strategen eine Rückkehr in die Formel 1. Nur in den Vorstandsetagen der Automobilindustrie wird die zunehmende Bedeutung des Austauschproduktes Reifen zwiespältig betrachtet - es entwertet die eigenen Bemühungen. Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug: "Ich habe noch nie einen Reifen allein ins Ziel kommen sehen."
Aus Macht ist Ohnmacht geworden. Der Superkleber von Michelin kleistert die Schwächen der Angreifer zu: Plötzlich wird der vom eigenen Personal schon als Schildkröte verspottete BMW-Williams zum Seriensieger; bleibt ein aufgemotzter Vorjahres-Silberpfeil im Titelrennen. Michael Schumacher versucht's mit Humor. Neulich fragte jemand, ob er ohne Bridgestone-Reifen den Großen Preis von Frankreich gewonnen hätte. "Ohne Reifen", antwortete Schumacher, "hätte ich mich sehr schwer getan, überhaupt zu fahren."
Beim Großen Preis von Deutschland in Hockenheim war Montoya dank der französischen Gummis ein bis zwei Sekunden pro Runde schneller als Schumacher mit seinen Bridgestones. Da ist selbst Ferrari kein Gegner mehr. Zwei Sekunden sind in diesem Tausendstelsport Welten. Aerodynamiker holen sich monatelang Schnupfen im Windkanal, um ein paar Zehntel zu finden - die Reifenhersteller machen solche Sprünge im Zwei-Wochen-Rhythmus. Rot und Blau sind die Schmuckfarben der konkurrierenden Konzerne, wie bei Planspielen der Militärs. Der sportliche Frontverlauf wird nach jedem Rennen mit farbigen Pünktchen hinter den Platzierungen auf den Fernsehschirmen nachgezogen. In der oberen Tabellenhälfte sind wenige rote Tupfer von Michelin-Blau umzingelt. Lediglich im Regen sind die Gummis aus Fernost noch haushoch überlegen. Grummelnd äußert Hisao Suganuma, Bridgestones oberster Motorsportler, ein Höchstmaß an japanischer Selbstkritik: "Die bisherigen Ergebnisse sind kein Spiegelbild unserer Möglichkeiten. Wir haben verstanden, dass wir einen kräftigen Schub brauchen." Aber: Nicht man selbst befinde sich in einer Krise, sondern die Konkurrenz habe im vorigen Jahr eine gehabt. Eine Frage der Perspektive.
"Gegen Ferrari zu siegen ist für uns viel wertvoller als mit ihnen", tönt hingegen Monsieur Dupasquier aus Clermont-Ferrand, "Erfolge von Ferrari fallen nie auf die Reifen zurück. Da glänzt nur die Marke oder Schumacher." Es macht ihm sichtlich Spaß, die Szene aufzumischen. 60 verschiedene Varianten hat Michelin vor der Saison getestet, ein aufreibendes Geschäft. Für die nötige Erfahrung sorgt die Doppel-Spitze BMW-Williams und McLaren-Mercedes, dazu Renault. Um Ferrari endlich zu stoppen, kollaborierten die Kontrahenten. Die Offenlegung aller Daten ist die eigentliche Sensation. Denn gegen die Geheimniskrämer der Formel 1 sind CIA-Agenten Plaudertaschen.
Das neue Reglement, das statt Einheitsreifen individuelle Mischungen erlaubt, hilft den Herausforderern. Nicht jeder Reifen harmoniert auf jeder Strecke mit jedem Rennwagen. Erst das komplizierte Abstimmen von Flügeln, Dämpfern und Motoren auf die Reifen bringt Balance und Grip. Wobei sich die Möglichkeiten mit Asphaltbelag, Fahrweise, Wetter und Boxenstoppstrategie multiplizieren.
Im Prinzip haben die Pneumatiker nur zwei Möglichkeiten: den Aufbau (Karkasse) des Reifens und die Lauffläche (Compound) zu ändern. Die Unendlichkeit liegt in der Kombination. Also werden für jede Rennstrecke und jeden Fahrer zwei bis fünf neue Typen geliefert, aus denen die Piloten dann die passende Mischung herausfinden müssen. Dafür werden zusammen etwa 100 000 Reifen pro Saison produziert. Eine Stunde dauert das pro Stück, der große Anteil an Handarbeit treibt den Preis bis auf 1000 Euro hoch. Die meisten landen im Schredder.
Bei Betriebstemperaturen zwischen 90 und 110 Grad kleben die Pneus am besten. Darüber beginnt die Blasenbildung. Geübten TV-Zuschauern ist auch das Graining ein Begriff, die Körnchenbildung auf rauer Piste - schon hat der Fahrer nichts mehr im Grip. Unerklärlich bleibt aber, wenn ein Reifensatz am Ende seiner vorausberechneten Lebensdauer noch mal zur Hochform aufläuft. Das so genannte Comeback-Phänomen macht ausgeklügelte Boxenstopp-Strategien zunichte.