Was für eine Dramatik gestern Abend! Der HSV liefert gegen Holstein Kiel eine gute Partie ab, führt kurz vor Schluss verdient mit 3:2 – und kassiert in der vierten Minute der Nachspielzeit doch noch den Ausgleich. Ein katastrophaler Rückschlag im Aufstiegskampf, wären die Hamburger doch bei einem Sieg am VfB Stuttgart vorbei auf Platz 2 gezogen.
Ich habe das Spiel mit meinem Kumpel gesehen, es war unterhaltsam. Eine gutklassige Partie, wie so viele seit der Aufnahme des Geisterspielbetriebs. Ohnehin haben sich viele Horrorszenarien bisher nicht bewahrheitet und man kann der DFL und den Vereinen nur gratulieren: Sowohl organisatorisch als auch sportlich war der Re-Start bemerkenswert.
Bundesliga ohne Fans: "Es ist mir irgendwie egal"
Und trotzdem gibt es ein Problem, das sich am gestrigen Fußballabend gut nacherzählen lässt: Mein Kumpel ist HSV-Fan und beim Fußball eher der aufbrausende Typ, und so ging ich beim Kieler Ausgleich in der 94. Minute ob seines wahrscheinlichen Wutanfalls instinktiv in Deckung. Aber dann passierte: nichts. Er saß bloß da und glotzte auf den Flachbildschirm.
Ich fragte ihn, wie das sein kann: Immerhin geht es für den HSV gerade um die Rückkehr in die Bundesliga, ein Ziel von nahezu existenzieller Bedeutung für den Verein. Da tut so ein unnötig verschenkter Sieg doch doppelt und dreifach weh! Oder? "Ich weiß nicht", sagte mein Kumpel, "ich kann mich nicht aufregen, es ist mir irgendwie egal."
So gehe es ihm seit der Corona-Pause ganz grundsätzlich bei den Spielen seines Vereins – und damit bringt er eine Stimmung auf den Punkt, die ich innerhalb meines Freundeskreises zuletzt verstärkt beobachte: Das Niveau ist gut, moralische Bedenken haben sich dank des Hygienekonzeptes zerschlagen – aber trotzdem lässt uns der Fußball seltsam kalt. Wie ein perfekt produzierter Popsong, dem es an Seele fehlt.
Warum ist das so? Weil sich die generellen Befürchtungen der Nostalgiker in den letzten Wochen eben doch als begründet erwiesen haben: Profifußball ohne Fans im Stadion ist Sportunterhaltung, die blutleerer nicht daherkommen könnte. Ein neunzigminütiger Phantomschmerz.
Welchen Unterschied macht es für die Fans, ob ihr Team nun in der 1. oder 2. Liga spielt, wenn sie ohnehin nicht zu den Auswärtsspielen reisen dürfen? Was bringt es überhaupt, um einen Platz im Europapokal zu kämpfen, wenn eigentlich schon klar ist, dass kontinentaler Wettbewerb in Zeiten der Pandemie auch in der kommenden Saison kaum möglich sein wird? Ganz zu schweigen von der grundsätzlichen Erkenntnis aus der Ausnahmesituation, an die ein Fußballspiel vor leeren Rängen so radikal erinnert: dass es auf der Welt so viel wichtigere Dinge gibt als Fußball.
In der Pandemie hat der Pokal keine eigenen Gesetze
Heute Abend geht es gleich weiter: DFB-Pokal-Halbfinale. Bayer Leverkusen tritt beim krassen Außenseiter in Saarbrücken an. Der Viertligist hat in einer Zeit, in der noch Zuschauer im Stadion erlaubt waren, bereits zwei Bundesligisten aus dem Wettbewerb gekegelt, aber unter den aktuellen Voraussetzungen dürfte die Begegnung eine Farce und der Klassenunterschied allzu deutlich sichtbar werden. Der Pokal mag seine eigenen Gesetze haben, aber sicher nicht in der Pandemie.
Ja, wir wissen inzwischen: Es wäre keine Alternative, auf Geisterspiele zu verzichten und eine Zeit nach Corona abzuwarten – weil es dann viele Vereine gar nicht mehr geben würde. Insofern ist es gut, dass der Ball in der Bundesliga wieder rollt. Aber machen wir uns nichts vor: Der Geisterfußball weckt keine Emotionen, er ist überraschungsarm und spielt perfekt austrainierten Fußballrobotern wie den Spielern des FC Bayern München in die Hände.
Es ist ein Fußball, der uns nicht mal durch ein Ausgleichstor in der Nachspielzeit in Wallung versetzt. Ein Fußball, der in seiner postapokalyptischen Tristesse fast ein bisschen Angst macht, weil er von einer Welt erzählt, die sich wirklich niemand wünscht.