In der 60. Minute war es so weit: Kevin Kuranyi verließ nach einer erschreckend schwachen Leistung beim Spielstand von 0:1 begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert das Feld und machte Platz für Vicente Sanchez, einen quirligen Angreifer, dribbelstark, aber sicher nicht als Knipser verschrien. Eine Maßnahme von Trainer Mirko Slomka mit klarer Botschaft: In einem so wichtigen Spiel kann Kuranyi den Schalkern momentan nicht weiterhelfen. Dessen Leistung ließ Slomka aber auch keine andere Wahl. Ohne Bindung zum Spiel, technisch schwach und mit teilweise haarsträubenden Abspielfehlern bot der Nationalstürmer eine Vorstellung, die in die Kategorie "Hat sein Geld nicht verdient" eingeordnet werden muss. Dabei stand Kuranyi bis dahin auch stellvertretend für seine Kollegen. Mit einer europäischen Spitzenmannschaft hatte das Spiel der Königsblauen eine Stunde lang absolut nichts zu tun.
Ohne Spielwitz, ohne Ideen, dafür aber mit gravierenden Defiziten im Spielaufbau und unendlich vielen technischen Stolpereinlagen machten sie es den Ballkünstlern aus Barcelona eine Stunde lang derart leicht, dass die sich teilweise wie in einer verschärften Trainingseinheit vorkommen mussten. Die Mitglieder des Schalker Mittelfelds liefen und liefen und liefen - waren dabei aber meistens meilenweit vom Ball entfernt. Von Spielkontrolle keine Spur. Die lag bei den fantastisch aufspielenden Strategen Xavi und Andres Iniesta, die ihre Schalker Gegner auf geschmeidige und ballsichere Art immer wieder vorführten und demonstrierten, wie schöner Fußball funktioniert.
Grätschen alleine reicht nicht
Das vermeintliche Jahrhundertspiel war letztlich ein Spiegelbild der gesamten Schalker Saison: Spieler wie Fabian Ernst, Levan Kobiashvili und auch ein Gerald Asamoah mögen noch so viel rackern, grätschen und sich die Lunge aus dem Leibe rennen - für europäisches Top-Niveau ist das schlichtweg zu wenig. Zudem bedenklich ist der Umstand, dass nach der Partie viele ein baldiges Comeback von Ivan Rakitic herbeisehnten. Natürlich ist der erst 19-Jährige hochbegabt und in guter Verfassung ein kreativer Ideengeber - aber ihn jetzt zum Messias für die bevorstehenden Aufgaben auf nationaler und internationaler Eben zu verdonnern? Ein gewagtes Manöver und auch ein Zeichen für eine wachsende Hilflosigkeit, die sich rund um die Veltins-Arena breitmacht.
Dass die Schalker in ihrem "Spiel des Jahres" eine Stunde lang so gut wie keine klare Torchance herausarbeiten konnten, hatte aber noch einen weiteren Grund: nackte Angst vor Barcas genialen Tricks und Ballstafetten. Wie sonst ist zu erklären, dass die Heimmannschaft von Beginn an wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange wirkte. In diesem Hexenkessel nicht nachvollziehbar. "Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viel Respekt haben", musste auch Slomka nach den 90 Minuten eingestehen. Null Pressing, kein attackieren, niemand, der ein Zeichen setzte - so machte die vermeintliche Übermannschaft von Frank Rijkaard auch ohne die verletzten oder indisponierten Ronaldinho, Lionel Messi und Deco, was sie wollte. Man hatte stets den Eindruck, die elf Spanier waren jederzeit in der Lage, noch eine Schippe nachzulegen.
Pleite mit heilender Wirkung?
Bei den Torchancen, die sich die Schalker in der letzten halben Stunde herausarbeiteten, wäre sicher noch ein Remis möglich gewesen. Aber vielleicht ist es auch gut so, dass keiner der Kopfbälle und Freistöße den Weg ins Tor gefunden hat. Schließlich kann so eine Niederlage auch heilende Wirkung haben, zumal die Reaktionen aus dem königsblauen Lager zeigen: Von einer ehrlichen Fehler- und Schwächenanalyse sind die Schalker weit entfernt. So erklärte Heiko Westermann, an diesem Abend der Beste seiner Mannschaft, doch allen Ernstes: "Wir haben heute ein Riesenspiel abgeliefert". Diese Meinung hatte er an diesem frustrierenden Abend exklusiv.
Was bleibt, ist mal wieder die Hoffnung. Noch sind 90 Minuten zu absolvieren, noch kann der Bundesliga-Dritte den Spieß umdrehen, noch ist das Wunder möglich. Nur wie? Eine Leistung wie in den ersten 60 Minuten und das Rückspiel im ehrwürdigen Camp Nou wird für die Slomka-Truppe zum Desaster. Träumen ist aber immer erlaubt, und so sind die Worte des sichtlich enttäuschten Managers Andreas Müller auch zu verstehen: "Wir geben die Hoffnung nicht auf. In Barcelona kann man mit einer ganz couragierten Leistung auch gewinnen." Und der zuletzt so starke Keeper Manuel Neuer - diesmal am Gegentor nicht schuldlos - ergänzte: "Wir müssen versuchen, Barcelona im Rückspiel unter Druck zu setzen. Wenn wir so spielen wie in der zweiten Halbzeit, ist auf jeden Fall noch was drin."
Gegen Ende noch eine gute Nachricht: Kevin Kuranyi kann sich doch benehmen. Trotz seiner erneuten Auswechselung - übrigens vor den Augen von Bundestrainer Joachim Löw! - verweigerte er Mirko Slomka diesmal den Handschlag nicht und demonstrierte Einsicht nach seiner zweifelhaften Aktion in der Runde zuvor gegen Porto, als er seinen Trainer vor einem Millionen-Publikum bloßstellte. Ganz klar seine beste Aktion an diesem für ihn ernüchternden Champions-League-Abend.