Dortmunds Kapitän Sebastian Kehl "Fußball ist ein trügerisches Geschäft"

Am Freitag startet der Deutsche Meister Borussia Dortmund in die neue Saison. Im Interview spricht Kapitän Sebastian Kehl über nervige TV-Auftritte, Profigehälter und seine Leaderrolle beim BVB.

Wie sehr stört es Sie eigentlich, dass die Leute Sie in Interviews immer auf Ihre Krankenakte ansprechen? Im "Aktuellen Sportstudio" mussten Sie zuletzt anhand eines Medizin-Skeletts Ihre Verletzungen erklären. Sie wirkten etwas genervt ...
Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich lieber über angenehmere Dinge sprechen. Aber ich kann es den Leuten nicht übelnehmen. Ich hatte in der Vergangenheit immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Letztlich habe ich gelernt, mit diesen Fragen umzugehen. Manchmal wird es mir aber tatsächlich zu viel. Im "Sportstudio" habe ich dann ja auch gesagt, dass ich mich gar nicht mehr so sehr mit der Zeit, die hinter mir liegt, beschäftigen möchte. Ich schaue nach vorne, bin froh, dass ich gesund bin. Es wird Zeit, wieder sportliche Schlagzeilen zu schreiben.

Sie sind seit über zehn Jahren beim BVB, haben viel mitgemacht. Dortmund war zwischenzeitlich ein Hort der Gier. Dann stand der Klub kurz vor der Pleite, weil Geld zum Fenster herausgeworfen wurde. Was haben Sie für Erinnerungen an diese turbulente Zeit?
Das hört sich jetzt vielleicht grotesk an, aber ich bin auch dankbar dafür, das alles miterlebt zu haben. Für meine Persönlichkeitsentwicklung war das wichtig, weil ich viele Erfahrungen sammeln konnte. Als Spieler wurden wir nicht mit der finanziellen Situation konfrontiert. Das wurde von uns weggehalten. Dann ist die Bombe geplatzt und wir waren selbst geschockt. Der Verein hat ums Überleben gekämpft. Das war hart und nicht ganz einfach - für alle im Klub und natürlich auch für unsere Fans und die ganze Region. Es war eine Minute vor zwölf. Es war fantastisch zu sehen, wie aus dieser Notsituation so ein starker Zusammenhalt entstanden ist und wir den Turnaround geschafft haben. Wir sind jetzt Deutscher Meister, haben einen ganz neuen Weg mit eigener Philosophie eingeschlagen. Diese Entwicklung ist ziemlich einzigartig im deutschen Fußball.

Inwiefern hat sich im Laufe der Jahre Ihre Einstellung zum Fußball-Geschäft verändert?
Ich hätte nie gedacht, als ich in der Winterpause der Saison 2001/2002 nach Dortmund kam, dass der Verein in ein paar Jahren vor dem Bankrott stehen könnte. Auch weil viele Dinge erst Stück für Stück durchsickerten. Wir hatten einen wahnsinnig starken Kader. Der Etat war riesig. Der Gewinn der Meisterschaft war sportlich natürlich eine große Sache, aber es gab damals schon Gerüchte: Wie kann das weiter gut gehen, denn es gab Anzeichen, dass es nicht rund läuft. Meine Einstellung zum Fußball-Business hat sich kaum verändert. Das Geschäft ist und bleibt schnelllebig - und oftmals trügerisch.

Haben Sie damals eigentlich sehr viel mehr als heute verdient?
Wir haben damals sehr gut verdient. Das stimmt schon. Aber das tun wir auch heute noch. Trotzdem ist das Gehaltsgefüge heute deutlich niedriger. Die Mannschaft damals hatte ein anderes Gesicht und war mit internationalen Topstars besetzt, mit Amoroso, Rosicky, Koller, Reuter. Da musste man finanziell mehr ins Risiko gehen und stand sportlich enorm unter Druck. Diese Zeiten haben sich geändert.

Sie sind der Kapitän von Borussia Dortmund - aber möglicherweise einer, der keinen Platz in der Startelf hat. Haben Sie manchmal Bedenken, die Bindung zum Team zu verlieren, so wie das bei Michael Ballack in der Nationalmannschaft war?
Bindung hat nichts mit Binde zu tun. Ich glaube, dass die Jungs schon wissen, wofür und für was ich stehe. Das hat gar nichts mit dem Kapitänsamt zu tun. Oder nur am Rande. Es geht um Charaktereigenschaften: Kann man führen? Bringt man sich ein? Übernimmt man Verantwortung? Das sind Eigenschaften, die kann man sich nicht anerziehen. Man hat sie oder nicht. Ich bin stolz, weiterhin Kapitän von Borussia Dortmund zu sein. Ich habe nie etwas geschenkt bekommen, war immer ein Leader, der auch sportlich überzeugt hat. Zurück zu Ihrer Frage: Nein, ich glaube nicht, dass ich die Bindung verlieren könnte. Auch zu den vielen jungen Spielern habe ich einen guten Draht, selbst wenn die Interessen manchmal differieren.

BVB-Boss Hans-Joachim Watzke stellt in Gesprächen gern die flache Hierarchie in der aktuellen Meistermannschaft heraus. Geht es ganz ohne Führungsspieler?
Ich bin überzeugt davon, dass es innerhalb einer Mannschaft eine Hierarchie geben muss. Sie kann flach sein, sich auf mehrere Schultern verteilen aber es geht aus meiner Sicht nicht ohne Führungsspieler. Ein Team muss einer Linie folgen - auf dem und auch außerhalb des Platzes. Umso besser, wenn es mehr als zwei, drei Spieler sind, die die Führung übernehmen, mit dem Trainer und dem Verein im Dialog stehen und den Ton angeben.

Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Jürgen Klopp beschreiben?
Wir gehen sehr respektvoll, freundschaftlich und professionell miteinander um. Und wir lachen viel. Manchmal sprechen wir über alte Zeiten und tauschen uns über Spieler aus, die die jungen Kollegen gar nicht mehr kennen. Ich achte Jürgen Klopp sehr. Es ist Gold wert, was er in Dortmund leistet. Andersherum, so empfinde ich es, schätzt mich der Trainer auch - als Mensch und als Spieler. Das ist mir wichtig.

Sie sind der Kapitän, was bespricht er mit Ihnen, was er mit den anderen nicht bespricht?
Wir haben keine Geheimnisse, wenn Sie das meinen. Aber es ist schon so, dass mir der Trainer bestimmte Themen mit auf den Weg gibt, die ich in die Mannschaft trage. Da bin ich dann in meiner Rolle als Kapitän gefragt.

Sammer und Klopp: Unter beiden Trainern wurden Sie Meister. Was ist der größte Unterschied zwischen den beiden?
Ich vergleiche nicht gerne, aber sie lassen unterschiedlichen Fußball spielen. Da haben beide ihre eigene Philosophie. Das aggressive Pressing und das schnelle Umschaltverhalten gab es unter Sammer so früher nicht. Ansonsten gibt es viele Gemeinsamkeiten: Beide Trainer sind Heißsporne, die mit wahnsinnig viel Leidenschaft dabei sind. Auch in ihrer Akribie ähneln sich Klopp und Sammer.

Wer wird der nächste Nationaltrainer? Sammer oder Klopp?
Gerüchte gab es ja um beide schon, das ist schwer zu sagen. Ich denke aber, dass Jogi Löw einen sehr guten Job macht und im Moment keinerlei Bedarf besteht. Persönlich hoffe ich, dass Jürgen Klopp uns noch ein bisschen beim BVB erhalten bleibt, er ist ein Glücksfall für die Entwicklung des Vereins. Der Weg, den er hier eingeschlagen hat, ist der richtige. Aber ich kenne seine persönlichen Pläne nicht.

Körperlich sind Sie seit ein paar Wochen wieder voll auf der Höhe. Denken Sie manchmal an die Nationalmannschaft?
Schön langsam. Ich bin jetzt endlich wieder auf dem Weg richtig fit zu werden. Letzte Saison war ich ja verletzungsbedingt nur an sechs Spielen beteiligt. Ich fühle mich gut, aber das Thema Nationalmannschaft stellt sich jetzt überhaupt nicht. Ich verfolge die Jungs aus der Ferne. Und ich habe weiterhin Kontakt zu dem einen oder anderen im und außerhalb des Teams. Per Mertesacker habe ich vor Kurzem in der Reha, Schweini zufällig im Urlaub getroffen.

16 Bundesliga-Trainer setzen auf Bayern München als kommenden Meister. Auf welchen Klub setzen Sie? Und warum?
Also ich schiebe den Bayern ebenfalls gern die Favoritenrolle zu. Sie haben vor der Saison noch mal ordentlich Geld in die Hand genommen und den eh schon starken Kader noch mal kräftig verstärkt. Wir fühlen uns wohl als Bayern-Verfolger. Das hat auch nichts mit Understatement zu tun. Unser Ziel ist das internationale Geschäft. Wir verstecken uns mit solchen Aussagen nicht hinter der Schale, damit Sie mich nicht falsch verstehen. Die Bayern wollen alles gewinnen, das haben sie ja bereits angekündigt. Von den Voraussetzungen her haben sie die besten Chancen. Aber dass wir sie ein bisschen ärgern können, haben wir ja schon bewiesen ...

Gibt es einen Spieler der Bayern, den Sie besonders gern in Schwarz-Gelb sehen würden?
Nein, denn das hieße ja, dass ich mit einem Spieler von uns nicht zufrieden wäre. Und das bin ich nicht. Wir kreieren selber Weltklassespieler. Das ist die Philosophie von Borussia Dortmund.

Der BVB hat sein Gesicht kaum verändert. Vieles spricht erneut für eine erfolgreiche Saison. Worin liegt jetzt die größte Gefahr für das Team, das ja immer noch sehr jung ist?
Gefahr ist mir als Wort zu negativ. Ich würde es als große Herausforderung für unsere junge Mannschaft bezeichnen. Die besteht zunächst öffentlich darin, als Deutscher Meister aufzulaufen. Das ist etwas Neues. Und es werden andere Dinge auf uns zu kommen. Die Mannschaft muss lernen, mit dem Erfolg, den man sich in der letzten Saison hart erarbeitet hat, umzugehen, aber da mache ich mir keine großen Sorgen. Darüber hinaus wartet mit der Champions League die nächste Herausforderung. Außer Patrick Owomoyela und mir hat noch keiner in dieser Liga gespielt. Wir freuen uns sehr darauf, aber es ist eine Umstellung. Rückschläge wird es vielleicht geben. Wir sind darauf eingestellt. Und ich kann versprechen, dass sich unsere Herangehensweise, erfolgreich Fussball zu spielen, im Vergleich zum letzten Jahr in keinster Weise ändern wird.

Sebastian Kehl

Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images Der Kapitän von Borussia Dortmund hat fast alle Höhen und Tiefen des Klubs miterlebt. Seit fast zehn Jahren trägt der 31-jährige Mittelfeldspieler, der bei den Weltmeisterschaften 2002 und 2006 mit dabei war, das BVB-Trikot. Nach vielen Verletzungen greift Kehl jetzt wieder an.

Klaus Bellstedt

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