Spanien vor dem Finale Die wollen nur spielen...

Von Frank Hellmann, Wien
Ist das Finale schon entschieden, bevor es überhaupt angepfiffen wird? Die spanische Nationalmannschaft verbreitete jedenfalls vor dem Aufeinandertreffen mit Deutschland die größte Zuversicht. Sogar für einen Stadtbummel durch Wien hatten die Superstars noch Zeit.

Ob das eine gute Idee gewesen ist? Michel Platini, der amtierende Boss der Europäischen Fußball-Union (Uefa), hat sich noch einmal daran erinnert, wie das eigentlich genau gewesen ist, damals, als er in seiner aktiven Blütezeit mit Frankreich das Finale einer Europameisterschaft bestritt. Es war der 27. Juni 1984 in Paris, als der spanische Torwart Luis Arconada dem Franzosen Platini den größten Triumph seiner Karriere ermöglichte. Der iberische Schlussmann ließ den Ball nach einem Freistoß des französischen Regisseurs unter dem Bauch ins Tor rutschen. Die Spanier standen mit leeren Händen dar, die Franzosen reckten die Trophäe in den Himmel.

Platini, gerade 53 Jahre alt geworden, weiß um das spanische (Torwart-)Trauma, und deshalb verriet der Uefa-Präsident auf der offiziellen Bilanzpressekonferenz, dass er Arconada persönlich zum Endspiel Spanien gegen Deutschland eingeladen habe. "Ich habe ihn angerufen", erklärte Platini und grinste. "Luis wird kommen."

Lästereien über Lehmann

Ob das ein gutes Omen für die "Selección" ist? Das Selbstbewusstsein der Protagonisten jedenfalls ist groß. Selbst der sonst eher zurückhaltende Kapitän und Arconada-Erbe Iker Casillas kündigt an: "Deutschland ist zwar physisch stärker als wir, aber Kraft ist nicht das einzige Kriterium." Noch deutlicher wird Stürmer und Joker Daniel Güiza: "Ich habe keine sichtbaren Stärken bei den Deutschen ausgemacht, deshalb mache ich mir keine große Gedanken." Und der 27-Jährige vom RCD Mallorca machte gar einen Spaß auf Kosten von Jens Lehmann: "Er ist ein guter Torwart - er spielt ja bei einem absoluten Spitzenverein."

Keine Frage, es herrscht gute Laune bei den Spaniern, die am Freitag und Samstag beim Abschlusstraining nur noch das Nötigste taten. Ein bisschen den Ball zuspielen, ein klein wenig laufen, am Ende noch ein Spielchen. Das alles mit einer Lust und Laune, die das Ensemble schon während des gesamten Turniers auszeichnet.

Stadtbummel statt Strafstöße

Es ist bezeichnend, dass selbst Carlos Puyol, der vermeintlich grobschlächtige Verteidiger vom FC Barcelona, beim lockeren Trimmtrab dafür sorgt, dass wenigstens zwei, drei Bälle dabei sind. Ballbesitz hat oberste Priorität bei diesen Virtuosen, die schon rein statistisch wie die sicheren Sieger aussehen: Sie haben in fünf Partien allein 104-mal aufs Tor geschossen (die Deutschen nur 58-mal), sie haben zu 55 Prozent den Ball, spielen 82 Prozent der Pässe an den Mitspieler, inszenieren die meisten Angriffe aller Teilnehmer über rechts, die zweitmeisten durch die Mitte und über links. Alles Rekordwerte dieses Turniers - wie auch die erst drei Gegentore.

Statistiken, die locker machen. Inzwischen residieren die spanischen Superstars im "Hotel Hilton Plaza" inmitten von Wien. Etliche Touristen und einige spanische Fans wunderten sich nicht schlecht, dass am Freitagnachmittag plötzlich in sanftgelbe T-Shirts gekleidete Fußballer aus der Herberge traten, um einen lockeren Bummel durch die belebte City zu unternehmen. Hände in den Taschen, Entspannung. Erst als die Menschen den langen Blonden als Fernando Torres identifizierten, gab es einige Zurufe, Torres winkte artig zurück.

Wer sich so selbstbewusst gibt, hat kein Versteckspiel nötig. Auch nachdem Torres' Nebenmann David Villa, immerhin mit vier Treffern bester spanischer Torschütze, nach einer Untersuchung im Wiener AKH einräumen musste, dass ein Einsatz keinen Sinn macht ("Es ist besser, dass ein Teamkollege spielt, der fit ist"), kam im spanischen Tross keine Unruhe auf. Villa glaubt fest daran, dass es die Mitspieler nun mit einem Fünfer-Mittelfeld richten werden. "Nun werde ich das Spiel von der Außenlinie genießen. Mich mit der Verletzung unter Druck zu setzen, wäre dumm."

Zumal mit Cesc Fabregas, dem Strategen vom FC Arsenal London, ein Ersatzkandidat parat steht, der schon die Russen mit seinen Geniestreichen zur Verzweiflung trieb. Der eingewechselte 21-jährige Mittelfeldspieler war der entscheidende Mann des Halbfinales. Zusammen mit David Silva, Andres Iniesta und Xavi Hernandez wies das von Marcos Senna abgesicherte Mittelfeld eine Zirkulationsdichte und Rotation auf, die mit einem "präzise aufs gegnerische Tor zuwirbelnden Kreisel" (Spielanalytik von F.A.S research) zu vergleichen war.

"Die Deutschen sind die Deutschen"

Klar, dass selbst der schrullige Nationaltrainer Luis Aragonés auf diese Komponenten setzt. "Wenn wir den Ball kontrollieren, machen wir unsere Gegner müde", sagt der 69-Jährige. "Die Deutschen sind physisch stärker, aber die Geschwindigkeit des Balles wird auch sie müde machen."

Auch wenn "der Weise aus Hortaleza" kaum Gefühle zeigt, so ist er seine größte Sorge los: Spanien wird nämlich wieder in den traditionellen roten Trikots spielen, was den Nationaltrainer deshalb erleichtert, weil er eine abergläubische Abneigung gegen die Farbe Gelb hegt, die dummerweise als Ausweichkluft dient.

Eigentlich wäre jetzt alles gut, gäbe es nicht eine klitzekleine Einschränkung, die Aragonés unmittelbar nach dem Halbfinale aus der Zitatensammlung eines ehemaligen Torjägers "und guten Freundes vom FC Barcelona" kund tat: Gary Lineker. Der Engländer hatte ja bekanntlich Fußballspiele auf den Erkenntnisgehalt reduziert, dass 22 Menschen dem Ball hinterher jagen und am Ende immer die Deutschen gewinnen. Das weiß auch der weise Spanier mit den schlohweißen Haaren, deshalb lässt Aragonés auch nach all den Hochrechnungen für seine Auswahl diese eine Einschränkung gelten. "Meine Mannschaft hat überhaupt kein Problem mit der Psyche, aber die Deutschen sind die Deutschen."

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