Als der größte anzunehmende Unfall für den deutschen Fußball abgewendet war, richtete sich der bange Blick der deutschen Nationalmannschaft von Johannesburg sofort in Richtung Bloemfontein. Dort steigt am Sonntag um 16 Uhr im WM-Achtelfinale der Klassiker schlechthin: Deutschland gegen England. "Ein solches Spiel sollte ein Halbfinale sein, nicht schon ein Achtelfinale. Das waren immer die größten, unvergesslichsten Spiele unserer Geschichte. Bestimmt wird es wieder eine tolle Fußball-Schlacht", sagte Franz Beckenbauer zum mit Spannung erwarteten Duell gegen den Erzrivalen von der Insel.
Zwar war bei der DFB-Auswahl, die am Mittwochnacht im Hotel Velmore Grande mit einem kleinen Feuerwerk empfangen wurde, nach dem glanzlosen 1:0 (0:0) gegen Ghana die Erleichterung spürbar, das Minimalziel erreicht und ein historisches Vorrunden-Aus bei der WM in Südafrika abgewendet zu haben. Doch der kommende Gegner England nötigte dem jungen deutschen Team, aber auch Bundestrainer Joachim Löw ungewohnt viel Respekt ab - zumal auch der Ausfall der angeschlagenen Bastian Schweinsteiger und Jerome Boateng droht.
"Das ist natürlich etwas ganz Besonderes, das Spiel lebt von seiner Geschichte. Die Engländer haben hervorragende Spieler: Lampard, Gerrard oder Rooney. Die sind hochgefährlich und haben viel Erfahrung", verdeutlichte Löw und ergänzte in Bezug auf Englands Torjäger Wayne Rooney: "Rooney kann immer explodieren. Er hat in der Premier League unglaublich viele Tore gemacht. Das wird für unsere Abwehr eine große Aufgabe. Rooney ist nur schwer zu bremsen."
Auch Kapitän Philipp Lahm, der zuletzt immer wieder großes Selbstvertrauen zur Schau gestellt hatte, zeigte sich von den Engländern schwer beeindruckt: "England ist im Achtelfinale der Favorit, weil sie sehr viele Stars aus der Premier League dabei haben. Das wird eine schwere Aufgabe für uns."
Nur Mesut Özil, der die deutsche Elf mit seinem sehenswerten Schuss in der 60. Minute zum Gruppensieg und ins Achtelfinale geführt hatte, zeigte sich siegessicher: "Wir haben gute Erinnerungen an England. Wir haben sie im vergangenen Jahr im U21-EM-Finale 4:0 geschlagen. Natürlich haben die viele Weltklasse-Spieler, aber wir haben keine Angst und werden ins Viertelfinale einziehen."
Allerdings muss sich Löw nicht nur mit der Stärke der Engländer, sondern zu allem Überfluss auch noch mit eigenen Problemen beschäftigen. Schweinsteiger (Oberschenkelverhärtung) und Boateng (Wadenverhärtung) sind ernsthaft angeschlagen. Bei beiden ist ein Einsatz äußerst fraglich. "Es wird kritisch", berichtete Assistent Hansi Flick am Donnerstag. "Wenn Schweinsteiger ausfallen sollte, wäre das für unser Spiel natürlich nicht von Vorteil", sagte der Bundestrainer dazu.
Positiv war für Löw immerhin, dass seine junge Mannschaft "diese Alles-oder-Nichts-Situation" gegen Ghana meisterte: "Es war gut für sie, durch dieses Stahlbad zu gehen. Das ist für die Spieler eine wichtige Erfahrung." Dies lasse eine Mannschaft "reifen", merkte Flick an.
Aber auch Löw war nicht entgangen, dass sein Team gegen Ghana einige Male Nerven zeigte, "unpräzise spielte" und "dass man in manchen Phasen den Druck gespürt hat". Ihm sei aber schon vor dem Turnier klar gewesen, "dass dies mit den jungen Spielern nicht einfach wird. Aber mit Spielen wie gegen Ghana im Rücken können die Spieler besser mit dieser Situation umgehen."
Dennoch forderte Lahm eine deutliche Steigerung: "Wir dürfen gegen England nicht so viele Torchancen zulassen, denn die sind gerade vorne weltklasse besetzt. Wir haben viele einfache Fehler gemacht, die uns sonst nicht passieren. Da merkt man, dass die Mannschaft noch jung ist."
Allerdings spürte man nicht nur bei den jungen Akteuren die hohe mentale Belastung. Auch ein Per Mertesacker stand einige Male völlig neben sich und entpuppte sich nicht zum ersten Mal bei dieser WM als Risikofaktor. Doch Löw beschwichtigte: "Ihm ist in der ersten Halbzeit der ein oder andere Ball weggesprungen, das sah unglücklich aus. Aber beide Innenverteidiger haben viele Duelle gewonnen. Arne Friedrich hat mir sehr gut gefallen. Per ist wichtig für uns, gerade wenn der Gegner Druck macht."
Der Bremer zeigte sich immerhin einsichtig: "Wir wissen, dass bei uns gegen Ghana nicht alles geklappt hat, aber wir sind absolut lernfähig. Bei England sind sehr große Namen am Start, aber wir müssen uns nicht verstecken", sagte Mertesacker.
Zumal Beckenbauer die deutsche Elf, deren Erfolg gegen Ghana 29,19 Millionen TV-Zuschauer (Marktanteil 79,7 Prozent) bei der ARD verfolgten, körperlich im Vorteil sieht: "Wir haben mehr Power! Die Engländer wirkten müde." Und auch Ex-England-Legionär und Sky-Experte Jens Lehmann ist überzeugt, "dass die Jungs mehr Respekt vor uns haben als umgekehrt. Von den Engländern weiß ich: Denen ist mulmig."