WM 2014: Deutschland - Brasilien Historisches Duell im Hexenkessel

Wenn Joachim Löws Mannschaft heute auf den Gastgeber trifft, geht es um nicht weniger als Fußball-Geschichte - für beide Länder. Angesichts der Situation wirken Trainer und Team erstaunlich gelassen.

Also, Zeit für eine historische Verortung dieser Angelegenheit von nationaler Tragweite. Deutschland errang bislang drei Mal den Weltmeistertitel, Brasilien trug die Trophäe fünf Mal nach Hause. Nicht schlecht, sollte man meinen, aber wirklich erinnern, das wird immer wieder klar, tut man sich im Land Peles natürlich an jenes 1:2 im Maracana gegen Uruguay. 64 Jahre ist das nun her, aber natürlich nicht vergessen. Niederlagen auf dem eigenen Platz erscheinen dem Brasilianer als nationale Tragödie. Für immer.

1950. Das sind also die zeithistorischen Größenordnungen, die verhandelt werden, wenn Joachim Löws Combo heute in Belo Horizonte Station macht, um den Gastgeber im Halbfinale herauszufordern. Und da steht natürlich die Frage im Raum: Darf man das überhaupt, Brasilien aus dem Turnier werfen? Wo doch alles hier rund um den Fußball einer Operation am offenen Herzen gleicht.

Andererseits: Hat Löw mit seinen Männern nicht die verdammte Pflicht, das Land von einer viel schlimmeren Heimsuchung zu bewahren, indem es die Brasilianer von diesem immensen Druck erlöst. Nicht auszudenken, wenn die Selecao am Sonntag im Maracana Argentinien unterläge (Menschen vor Ort hoffen ernsthaft, dass dieses Spiel nicht zustande komme, der inneren Sicherheit wegen).

"Meine Vorfreude ist wahnsinnig groß"

Der Fußball zieht dieser Tage die ganz großen Linien durch seine Historie und mittendrin, natürlich, die Deutschen. "Das ist ein Highlight, etwas sehr Spezielles und Großartiges. Meine Vorfreude ist wahnsinnig groß, so geht es allen bei der deutschen Nationalmannschaft, und ich glaube, so geht es allen Deutschen", frohlockt der Bundestrainer deshalb angemessen.

Er und seine Nationalmannschaft gehören unter den letzten Vier mittlerweile zum Inventar, ein Kommen und Gehen drum herum, doch die Deutschen, die bleiben einfach. Gehen nicht weg. Wo andere sich von Runde zu Runde jubeln, begreifen sie die Vorrunde, die für sie frühestens im Achtelfinale endet, als Aufgalopp für Größeres. Sie ändern noch munter ihr System, verschieben ihren Kapitän Lahm zunächst ins Mittelfeld, dann mitten im Spiel nach rechts hinten, wo er derzeit ergebnisoffen wieder geparkt ist.

Vorne stürmte nach drei Partien plötzlich wieder der gute alte Klose, dafür rotiert der Innenverteidiger Mertesacker plötzlich auf die Bank. Zu langsam. Dabei schien er doch so etwas wie der Anker in der Defensive. Es gibt nicht viele Mannschaften, die sich dermaßen vielen Rochaden gönnen, aber was soll’s, es funktioniert. Und was funktioniert, muss beibehalten werden. Wie die Elf gegen Brasilien aussieht, ist deshalb kaum mehr vorherzusagen.

Löw hält sich nicht lange mit Konstanten auf

Folgte man ordinärer Fußball-Logik, verteidigten im Zentrum abermals Boateng und Hummels, sie gehörten gegen Frankreich zu den Besten. Aber das allein muss einen schon skeptisch machen. Löw hält sich nicht lange mit Konstanten auf. Aber gut, weiter: rechts Lahm, links Höwedes, davor Schweinsteiger und Khedira, deren Autorität im Kader offenbar noch immer groß genug ist, dass sie nun doch nebeneinander, nicht nacheinander auflaufen. Leicht davor: Kroos. Der Real-Madrid-Kroos, wie es bald heißen wird (ob er dann wohl vor, neben oder nach Khedira spielt?).

Vorne ist Müller gesetzt. Auch Özil dürfte sich in der Elf halten. Bleibt noch die rechte Außenbahn. Schürrle und Götze balgen sich da, der eine mit mehr Einsatz (Schürrle), der andere mit weniger (Götze). Schürrle belebte gegen Frankreich nach seiner Auswechslung die Offensive merklich. Was ihn allerdings auch zum perfekten Einwechselspieler macht.

Knifflig.

Deutsche Gelassenheit

Fest steht, dass die Deutschen eine Umgebung erwartet, für die vor rund 100 Jahren einmal der Begriff "Hexenkessel" erfunden wurde. "Ich weiß nicht, ob wir so eine Atmosphäre schon einmal erlebt haben. Da muss man sich vielleicht mal vorstellen, dass die gelben Trikots weiß sind", unkt der Torwart Neuer düster.

Man könnte derlei Umbewertungen als ganz schlechtes Zeichen ansehen, was Neuers Selbstbewusstsein anbelangt, wüsste man nicht, dass er sich selbst in einem Wespennest noch Schlafen legen könnte, so sehr ruht er in seinem Modellkörper. Für den gebürtigen Berliner Jerome Boateng "geht es fast nicht größer". Er spüre vor der Partie "eine Vorfreude, ein bisschen ein Kribbeln. Nervosität." Er klingt, als spreche er über den 80. Geburtstag seiner Großmutter.

An der deutschen Gelassenheit wird es also nicht scheitern. Löws Gleichmut hat offenbar die ganze Gruppe erfasst. Die Geschichte, sie mag Löws Jungs Respekt einflößen, beeindrucken lassen sie sich von ihr offenbar nicht. Beinahe scheint es, als ob ausgerechnet sie uns daran erinnern, was uns bei all dem Pathos erwartet: Ein Spiel, nicht mehr.

Aber auch nicht weniger.

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