Es gibt wohl niemanden auf der Welt, der so sicher und schnell Ordnung in einen Raum bringen kann wie Marie Kondo. Wegwerfen oder behalten? Kondo fällt die Entscheidung binnen Sekunden, und dann findet sie auch noch einen Platz für die Dinge, die bleiben sollen. Einen Platz, der geradezu perfekt erscheint, logisch und zwingend – den allerdings niemand zuvor gesehen hatte.
Kondo, 38 Jahre alt und aus Tokio stammend, beherrscht die Kunst des Aufräumens so meisterhaft, dass ihr Name es sogar in den englischen Wortschatz geschafft hat: "to kondo" heißt so viel wie "ausmisten".
Julian Nagelsmann, 36 Jahre alt und aus Landsberg am Lech stammend, soll genau das tun: aufräumen. Er ist am Freitagmittag zwar offiziell als neuer Bundestrainer vorgestellt worden, aber der Titel ist ein wenig irreführend, denn eigentlich erwarten sie beim Verband, dass Nagelsmann ihnen die Kondo macht. Einmal durch alle Räume gehen, Abwehr, Mittelfeld und Strafraum, und die Frage stellen, ob man all das Zeug wirklich noch braucht, das in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten von den Hausherren Flick und Löw gesammelt wurde. Diese Dreier-Ketten zum Beispiel, Schmuck, den heute eh niemand mehr trägt im Weltfußball. Oder die Mittelfeldrauten, reich an Ornamenten und Verzierungen, aber man weiß kaum, wo vorn und hinten ist bei den Dingern.
Julian Nagelsmann und die "einfache Idee"
Nagelsmann hat eine erste Inventur bereits gemacht, dabei steht er erst seit Freitagmorgen beim DFB unter Vertrag, und die Nationalmannschaft, dieses Gebilde mit seinen vielen Sälen und Nebengelassen, wird er erst im Oktober abschreiten können, wenn die Länderspiele gegen die USA und Mexiko anstehen. "Ich will eine einfache Idee vermitteln", sagte Nagelsmann bei seiner Vorstellung in Frankfurt. Er forderte eine "gute, gesunde Aggressivität" auf dem Platz und wolle "Stress erzeugen beim Gegner", was idealerweise dazu führe, "dass es weh tut, gegen uns zu spielen". Nagelsmann war bemüht, jedes kritische Wort zur Taktik seines Vorgängers zu vermeiden; er gab auch an, die Doku-Serie "All or Nothing" nicht gesehen zu haben, die Hansi Flick als überforderten Trainer entblößt hatte. Doch dann rutschte Nagelsmann ein Satz heraus, der sehr wohl als Kommentar zur Ära Flick gelesen werden kann. Nachdem Nagelsmann wieder mal von der Schönheit des schlichten Spiels geschwärmt hatte, schloss er mit den Worten: "Wir wollen nicht mit 14 verschiedenen Grundordnungen spielen."
Eben dies hatte Flick getan, bloß dass es nicht 14 Aufstellungen waren, mit denen er in seiner zweijährigen Amtszeit experimentierte, sondern mehr als 25. Flicks ständige Personalrochaden führten zu einem frühen Scheitern bei der WM 2022 und zu drei Testspiel-Niederlagen in Serie in diesem Sommer. Doch nicht das blamable 1:4 gegen Japan Anfang September führte beim DFB zum Umdenken, dass Fußball ein doch recht simples Spiel ist und Flick es unnötig verkompliziert hatte. Es war das erste Spiel nach Flick, das 2:1 gegen Frankreich.
Immer ein Fußballer: Nagelsmanns steile Karriere in Bildern
Wer dabei war in Dortmund, sah eine Mannschaft, die wie erlöst wirkte. Auf der Trainerbank saß Rudi Völler, der dem Team gut zugeredet und ihm einen einfachen Matchplan mitgegeben hatte, und schon lief es. Diesen ganzen Überbau, das Überakademisierte, oftmals auch esoterisch Weihevolle, mit dem Flick und auch Joachim Löw das deutsche Spiel überladen hatten – Völler räumte es in nur einer Nacht weg. Es war wie ein Speeddating mit Marie Kondo.
Nach dem Frankreich-Spiel war auch klar, welches Profil der Nachfolger von Flick würde haben müssen. Gesucht war nun ein Pragmatiker, der diese offensiv so talentierte Mannschaft an ihre Stärken erinnert und ihre Defizite in der Abwehr mit klaren Handlungsanweisungen behebt.
Dass Nagelsmann dieses Profil besitzt, unterstrich er am Freitag wortreich. Seine Ausführungen waren ein Lob der Einfachheit, das Völler gern hörte, und er selbst übte sich in Demut. Das Amt ist größer als ich, so lautete Nagelsmanns Botschaft. Eine Tonlage, die neu ist für diesen jungen Trainer – und womöglich auch Resultat eines Reflexionsprozesses. Er habe über seine Zeit beim FC Bayern nachgedacht, sagte Nagelsmann auf die Frage, was er seit seiner Beurlaubung im März getan habe. "Diese Fehler will ich nicht noch mal wiederholen."
Der DFB versprüht Euphorie
Welches Verschulden genau er bei sich sieht, ließ Nagelsmann offen. Eine Erkenntnis aus seiner kurzen Amtszeit bei den Bayern liegt jedoch offenbar darin, dass es ein Trugschluss war zu glauben, ein langfristiger Arbeitsvertrag biete Jobsicherheit. "Ich bin ein gutes Beispiel dafür, dass dies nicht so ist", sagte Nagelsmann, der im Sommer 2021 für fünf Jahre unterschrieben hatte in München. An den DFB bindet er sich nun zehn Monate, bis Juli 2024. "Gemeinsame Arbeit soll Vertrauen schaffen, nicht ein Stück Papier", sagte Nagelsmann, dem diese Formulierung so gut gefiel, dass er sie gleich zweimal wiederholte.
Nagelsmann Zeit endet mit der Europameisterschaft im nächsten Jahr. Deutschland ist Gastgeber (und damit zum Glück qualifiziert), und Nagelsmann versprach am Freitag schon einmal, "attraktiven Fußball" spielen zu lassen, "der die Leute begeistert". Natürlich wolle er das Turnier auch gewinnen, er sei sehr optimistisch und wolle die Mannschaft "positiv pushen."
Erst einmal jedoch stehen Aufräumarbeiten an. Am 9. Oktober bricht die Mannschaft in Frankfurt zu einer USA-Reise mit zwei Testspielen auf. Es ist der erste Schritt Richtung EM, und wenn all das eintrifft, was DFB-Präsident Neuendorf, Sportdirektor Völler und Bundestrainer Julian Nagelsmann alles in Aussicht stellten am Freitag, nämlich ein "wunderbares Turnier" in einem "wunderbaren Land", dann bekommt vielleicht auch Julian Nagelsmann einen Eintrag im englischen Wörterbuch: "to nagelsmann", ein Spiel mit einfachen Mitteln gewinnen.