Es ist die Schmach von Cordoba, die im kollektiven Gedächtnis deutscher Fußballfans für die WM 1978 in Argentinien steht. "I werd narrisch! Krankl schießt ein! 3 zu 2!" Der Jubel des österreichischen Reporters Edi Finger ist legendär. Der Weltmeister war entthront worden. Von Österreich! Es war das Ende der glorreichen deutschen Fußballergeneration um Beckenbauer, Sepp Maier, Gerd Müller, Netzer, Vogts, Overath und wie sie alle hießen. Die meisten der Helden von '72 und '74 waren eh schon nicht mehr dabei. Es war eine Demontage. Und doch: Die wahre Schande Deutschlands lag neben dem Platz. Wir hätten es damals schon wissen können; vielleicht sogar wissen müssen. Doch wir waren arglos.
Wir lauschten stattdessen simplen Liedchen. "Buenos dias, Argentina!", trällerte Udo Jürgens zusammen mit den Nationalkickern und stimmte die Nation so auf die Titelkämpfe im Land der Gauchos ein. Wir ahnten nicht, dass es ein viel zu freundlicher Gruß an ein Land war, dass es so nicht mehr gibt: das Argentinien der Militärjunta. Heute klingen etliche der harmlosen Zeilen wie Hohn.
Ich bin hier
"Buenos dias, Argentina! Er war lang, mein Weg zu Dir! Doch nun schwenk' ich den Sombrero. Buenos dias, ich bin hier!"
Ja, Argentinien war sehr weit weg damals, fremd und exotisch. Natürlich wusste man trotzdem, dass das Land nach einem Putsch 1976 von einer Militärjunta regiert wurde. Dass da nicht alles mit rechten Dingen zuging, konnte man sich denken. Wie brutal die Generäle gegen ihr eigenes Volk vorgingen, ahnten wir aber nicht. Tatsächlich hatten sie eine Schreckensherrschaft errichtet, der rund 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Noch heute ist das Schicksal zahlloser Verschwundener, der Desaparecidos, ungeklärt. Während draußen ein Fußballfest inszeniert wurde, wurden Menschen in den Folterkellern gequält. In der berüchtigen Militärakademie ESMA könnte man den Jubel aus dem nahen River-Plate-Stadion, in dem auch das Finale gespielt wurde, sogar vernommen haben.
Eine Todesmelodie
"Buenos dias, Argentina. Wenn die rote Sonne glüht, rauscht von ferne der La Plata und er singt mit mir ein Lied."
Ein Lied? Eher eine Todesmelodie. Niemand weiß, wie viele ihrer Gefangenen die Junta im Rio de la Plata ertränkt hat. Sie warf ihre Opfer einfach aus Flugzeugen in die grau-braunen Fluten des riesigen Stroms - betäubt zwar, aber lebend. Die Strömung trug die Ertrunkenen ins offene Meer. Bekannt wurde diese fürchterliche Praxis allerdings erst in Prozessen gegen verantwortliche Militärs nach dem Ende der Diktatur, und lange nach dem WM. Diese diente der Junta genauso zur Propaganda wie Olympia 1936 den Nazis. Und abseits des Fußballs waren Schwarz und Weiß längst nicht so klar verteilt wie auf dem Nationaltrikot der Deutschen. Die Bundesrepublik verfolgte durchaus ihre Interessen. Vielleicht erklärt das ja auch das schreckliche Zitat von Berti Vogts: "Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen."
Hand in Hand
"Buenos dias, Argentina! Guten Tag, du fremdes Land. Buenos dias, Argentina! Komm wir reichen uns die Hand."
Die Sache mit dem Handschlag war ein Thema vor der WM. Ein wenig war öffentlich diskutiert worden, ob man das Turnier nicht doch boykottieren sollte; wirklich zur Debatte stand das aber nicht. Stattdessen machten Aufrufe die Runde, Diktator Videla und seinen Generälen aus Protest wenigstens nicht die Hand zu reichen - beispielsweise bei einer Siegerehrung. "Verweigert den Generälen den Handschlag", forderte auch Paul Breitner, der mit dem DFB sowieso im Clinch lag und dem WM-Kader daher nicht angehörte. DFB-Chef Hermann Neuberger, der im Mannschaftsquartier in Ascochinga auch noch den früheren NS-Fliegeroffizier Hans-Ulrich Rudel empfing, verbot den Nationalkickern explizit die Protestgeste. Glücklicherweise kamen sie dann ja nicht in die Verlegenheit. Die Niederländer aber, die sich im Finale gegen Argentinien wohl zu recht verschaukelt fühlten, verweigerten den Handschlag.
Band der Harmonie
"Buenos dias, Argentina! So heißt meine Melodie. Und sie soll uns zwei verbinden mit dem Band der Harmonie."
Es war tatsächlich stark, das Band der Harmonie zwischen den beiden Staaten. Während die USA die Junta mit einem Embargo belegten, versorgte die deutsche Rüstungsindustrie die argentinischen Folterer mit Waffen. Siemens brachte zur Weltmeisterschaft das Farbfernsehen nach Argentinien. Auch die Fußballfunktionäre hatten ihre Interessen, verdankten sie doch die Vergabe der WM 1974 nach Deutschland nicht zuletzt südamerikanischer Unterstützung. Im Gegenzug vergaß die sozial-liberale Regierung in Bonn "aktiv", sich um Deutsche und Deutschstämmige, die in die Hand der Junta geraten waren, zu kümmern. Der gut dokumentierte Fall der 1977 von der Junta zu Tode gefolterten Tübingerin Elisabeth Käsemann - erst kürzlich in einer ARD-Dokumentation umfassend aufgerollt - lässt einen sprachlos zurück. Womöglich hätte ein einziger Anruf oder die Drohung, ein Freundschaftsspiel in Buenos Aires ein Jahr vor der WM abzusagen, gereicht, um Leben zu retten. Doch es geschah nichts!
Ein Albtraum
Buenos Dias, Senorita! Und wenn du dann bei mir bist, wird die Zeit hier wie ein Traum sein, den man niemals mehr vergißt!
Von wegen Traum: Die deutschen Kicker spielten grottenschlecht und schafften nur einen einzigen Sieg. Die Österreicher schossen die fußlahmen früheren Helden völlig zurecht aus dem Wettbewerb. Es war ein Turnier zum Vergessen. In Argentinien aber ist nichts vergessen. Der Albtraum wirkt bis heute fort. So viele Familien vermissen Angehörige, in zu vielen Fällen ist bis heute nicht Recht gesprochen, und immer noch umrunden die Mütter der Plaza de Mayo an jedem Donnerstag für eine halbe Stunde den Platz vor der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast im Zentrum von Buenos Aires, um zu verhindern, dass das Schicksal zahlloser Verschwundener in Vergessenheit gerät.
Es konnte nur einen Sieger geben
Noch heute beschämend genug: Von all dem hatte ich am Tag der Schmach von Cordoba im Grunde keine Ahnung. Wir hatten nicht einmal wirklich begriffen, dass bei der WM der Junta natürlich nur das Team der Junta gewinnen konnte. Selbst als das entscheidende Spiel um den Einzug ins Finale aus fadenscheinigen Gründen kurzfristig verlegt wurde, so dass Argentinien genau wusste, wie hoch es gewinnen musste, um ins Endspiel einzuziehen, ging uns kein Licht auf. Wie gesagt, wir waren schlicht arglos.
Ob Udo Jürgens sein Lied heute noch singen mag, weiß ich nicht. Die WM 1978 taugt jedenfalls nicht für nostalgische Fußballgeschichten. Es war ein perverses Turnier. Die WM im Land der Folterer hätte niemals stattfinden dürfen.