Von Berti Vogts stammt der schreckliche Satz: "Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen." Er äußerte ihn anlässlich der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, einem Land, in dem seit 1976 eine Militärdiktatur herrschte, die Gegner und Andersdenkende gnadenlos wegsperrte und ermordete. Vogts hätte es besser wissen müssen, denn im Juni 1977 war die Nationalmannschaft schon mal zu Gast in Argentinien gewesen. Kurz zuvor hatte die Junta die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann in ein Folterlager gesperrt und später mit vier Schüssen in den Rücken ermordet.
Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger war über ihren Tod informiert worden, zog es aber vor, die Mannschaft nicht in Kenntnis zu setzen über das Schicksal ihrer Landsfrau. Erst nach dem 3:1-Sieg der Deutschen gegen die Argentinier (zwei Tore von Klaus Fischer, eins von Bernd Hölzenbein) wird Käsemanns Tod offiziell bekannt gegeben.
Vogts schwärmt von der guten Stimmung
Im Dokumentarfilm "Das Mädchen" erinnert sich Berti Vogts vor allem an die gute Stimmung, die im Stadium herrschte. Der Regisseur Eric Friedler hat die Geschehnisse des Frühjahrs 1977 rekonstruiert - die 75 Filmminuten machen den Zuschauer sprachlos. Es tauchen die üblichen talking heads auf, die man aus Geschichts-Dokus kennt. Aber bald wird deutlich, dass Hildegard Hamm-Brücher, Klaus von Dohnanyi und Gerhard Baum nicht nur alt gewordene Zeitzeugen sind, sondern verstrickt in einen Fall politischen Totalversagens. Käsemann, Tochter eines Theologen aus Tübingen, war mit guter Absicht nach Argentinien gereist, um den Armen zu helfen. Als sie inhaftiert wurde, schwieg die Politik, namentlich das Auswärtige Amt.
Dohnanyi und Hamm-Brücher waren damals Staatssekretäre, deren Schuld darin bestand, den Tod eines Menschen nicht verhindert zu haben. Friedler bringt sie dazu, ihre Fehler einzugestehen, immerhin. Ihr einstiger Chef Hans-Dietrich Genscher dagegen wollte sich nicht zu dem Fall äußern. Auch eine Art von Staatsräson.
"Der Fußball hat Ohren, Augen und Mund verschlossen"
Die vielen Stimmen, zu ihnen gehören Hans-Christian Ströbele, Paul Breitner und Herta Däubler-Gmelin, aber auch ein argentinischer Folterknecht sowie Mitgefangene von Käsemann, reden übereinander, sie treten manchmal in einen montierten Dialog ("Ich bin gespannt, wie Dohnanyi sich rausgeschummelt hat", sagt Hamm-Brücher). Der Film bohrt tiefer und tiefer, legt Schicht um Schicht frei. Das schwarze Herz findet er bei dem ehemaligen deutschen Botschafter in Argentinien, Jörg Kastl, der darüber schwafelt, dass "die Linke" Käsemann bestimmt bereit gewesen sei, Bomben zu werfen. Kastl ist nach den Dreharbeiten verstorben.
Der Bundesrepublik, so stellt es der Film dar, war eher an guten Geschäften als an Menschlichkeit interessiert. Deutschland lieferte damals Waffen an Argentinien, die Firma Siemens wollte Farbfernseher in das WM-Land verkaufen, und Mercedes schenkte jedem argentinischen Nationalspieler ein Auto. Das "Mädchen" war da ein Störfall.
Das Erschreckende ist: Ein Anruf hätte womöglich genügt, um Käsemanns Leben zu retten. Ein Anruf von Genscher, ein Anruf von Kastl, sogar ein Anruf von Neuberger, der hätte fordern können: "Es gibt nur ein Fußballspiel, wenn ihr die Frau freilasst." Der Anruf blieb aus, was den damaligen Südamerika-Korrespondenten des "Spiegel", Hellmuth Karasek, dazu bringt, den DFB-Präsidenten einen "Kollaborateur" zu nennen.
Und die Fußballer? Sind heute entgeistert, empört. Sepp Maier, der Spaßvogel, der im Stadium von Buenos Aires mit einem deutschen Schäferhund herumgealbert hatte, sagt schlicht: "eine Schweinerei". Karl-Heinz Rummenigge, längst zum sportpolitischen Top-Diplomaten gereift, sagt: "Der Fußball hat Ohren, Augen und Mund verschlossen."
"Das Mädchen", gefilmt im klassischen Dokumentar-Stil und erzählt von einer sonoren Sprecherstimme, ist auch eine Refklektion über Wirtschaftstinteressen und Menschenrechte. Das, was 1977 passiert ist, kann sich wiederholen. Wie wird der DFB sich wohl verhalten, wenn die Fußball-WM 2018 in Russland ansteht?
Urteil: Ein Film, der tief in das Bergwerk der Vergangenheit eindringt. Man schaut und bekommt vor Staunen und Erschrecken den Mund nicht mehr zu.
"Das Mädchen - Was geschah mit Elisabeth K.?", Donnerstag, 5. Juni, 22.45 Uhr im Ersten