Als sein Leben zerbricht, spürt Martin Kittner davon nichts. Aufstehen und weiterkämpfen will er. Den Sieg für seinen Ringerverein AC Lichtenfels in der zweiten Bundesliga klarmachen. Sein Gegner Georgi Gelashvili hat ihn nach einem Gerangel zwar auf den Rücken geworfen. Aber Kittner ist ja immer noch in Führung. Jetzt nur nicht nervös werden, denkt er. Einmal tief durchatmen, und weiter geht es. Wie schon in unzähligen Kämpfen zuvor. Nur die Landung auf dem Boden hat sich diesmal anders angefühlt. Heftiger als sonst. Irgendwie komisch, sagt Kittner sich, als er da so auf der Matte liegt. Aber es tut nichts weh, ist wohl alles in Ordnung.
Also, aufstehen. Nichts rührt sich. Die Beine nicht, die Arme auch nicht. Wie festbetoniert. Aufstehen! Der Gedanke ist wie ein Schrei. Panik. Wieder tut sich nichts. Nicht einmal ein Zucken. Aufstehen!! Jetzt ist es nur mehr ein verzweifeltes Wimmern. Längst kniet Gelashvili neben Kittner. Gerade noch erbitterte Gegner, tätschelt er ihm die Hand. "Wird schon wieder alles gut, Martin. Ja?" Er fleht um eine Antwort. Kittner schweigt. Hat die Augen aufgerissen, schnappt nach Luft. Trainer Matthias Fornoff, der den Kampf von der Ringkante verfolgt hat, eilt zu seinem Schützling. Fragt: "Was ist los mit dir?" Kittner sagt: "Ich spüre meine Beine nicht mehr." Fornoff antwortet: "Das wird schon wieder." Was soll er auch anderes sagen?
Die Stimmung ist aufgeheizt
Die Sporthalle ist an diesem 30. September 2006 ausverkauft. 750 Menschen drängen sich bis auf Zentimeter an den Ring. In der Luft hängt ein Gemisch aus Schweiß, Bier und Rauch. Die Fenster feucht beschlagen. Die Stimmung aufgeheizt. Aufgedrehte Fans versuchen, ihren AC Lichtenfels zum Sieg im Bundesligaduell gegen den RWG Mömbris-Königshofen zu brüllen. Kittners Freundin Bettina Kempf sitzt in der ersten Reihe. Wie so oft. Seit einem Jahr sind sie ein Paar. Er ist 28 Jahre alt, sie 22.
"Das war eine Allerweltsaktion, wie sie eigentlich ständig passiert", sagt Kempf heute. Gelashvili schiebt, Kittner versucht, dagegen anzustehen. Verliert das Gleichgewicht, stürzt nach hinten. Mehr nicht. Ringer trainieren solche Stürze täglich im Training. Sie sind Routine, schon die Jüngsten beherrschen das.
Aber als Kittner noch im Fallen ist, hat Kempf bereits kein gutes Gefühl. Warum? "Sah einfach seltsam aus", sagt sie. Als ihr Freund auf die Matte knallt, sieht sie, was er schon nicht mehr spürt. "Sein Nacken und der Kopf waren komisch nach hinten verdreht." Dann fällt auch noch Gelashvili mit voller Wucht auf Kittner. Der Hals gibt unter der Last nach.
"Das ist ein Querschnitt"
Kempf studiert Medizin. Als ihr Kittners Vater Herbert in der Halle zuraunt: "Das wird schon wieder", will sie ihn am liebsten anschreien: "Nein, das wird nie wieder was." Sie hat gesehen, dass die Hände ihres Freundes verkrümmt an den Armen hängen. Sie weiß, dass dies Symptome einer spastischen Lähmung sind. Davon hat sie in einem Lehrbuch gelesen, Fotos gesehen. "Das ist ein Querschnitt", sagt sie. Und weint.
Martin Kittner galt als einer der besten Ringer Deutschlands. In der Gewichtsklasse bis 60 Kilogramm im griechischrömischen Stil gab es nur wenige, die ihn schlagen konnten. Als Jugendlicher war er Vizeweltmeister, und bei den Deutschen Meisterschaften belegte er 2006 den dritten Platz. Noch wenige Wochen vor seinem Unfall hatte er ein wichtiges internationales Turnier in Warschau gewonnen. Seine Form war gut und Olympia in Peking 2008 sein Ziel. "Dann wäre ich mit meinem Ringerleben zufrieden gewesen", sagt Kittner. Er hätte es schaffen können.
Bereits als Zehnjähriger bewies Kittner Talent. 1988 trat er in der Sendung "Wetten, dass ..?" bei Thomas Gottschalk auf und schaffte mehr Brückenschläge als die in jener Zeit berühmten Pasarelli-Brüder. Der blonde Knirps war der Star der Sendung und wurde nach gewonnener Wette von Gottschalk im roten Ringertrikot auf den Schultern durch das Studio getragen.
Heute ist Martin Kittner ein C5-C6-Fall. Kalte Zahlen für eine fatale Verletzung: Der fünfte und der sechste Halswirbel wurden durch die Wucht des Aufpralls zertrümmert, die Splitter verkeilten sich ineinander und durchtrennten das Rückenmark. Stahlplatten und Schrauben halten nun die zerstörten Wirbel zusammen. Eine blasse, bleistiftdicke Narbe an Kittners Nacken ist unscheinbares Zeugnis der Operation. Für die Signale des Hirns ist die geflickte Bruchstelle ein unüberwindbares Hindernis. Muskeln und Sehnen hören nicht mehr auf das, was ihnen befohlen wird. Weil sie nicht mehr gefordert werden, verfallen sie jeden Tag ein bisschen mehr.
Er wird nie wieder fühlen
Kittner kann sich nicht mehr am Kopf kratzen, er weiß nicht, wann seine Blase voll ist, über seinen Darm hat er keine Kontrolle. Er wird nie wieder fühlen, wenn ihm seine Freundin über das Bein streichelt, er wird sie nie wieder in den Arm nehmen können. Mit Viagra würde er vielleicht eine Erektion bekommen, aber er würde nichts davon spüren.
Eine Verletzung ohne Hoffnung, bei der auch Glaube und Wille nicht helfen. Denn Heilung gibt es nicht. Nerven wurden durchtrennt, und bis heute hat die Medizin keinen Weg gefunden, derart geschädigtes Rückenmark wieder zu regenerieren. Operationen und Medikamente können lediglich das Überleben sichern. Wunder sind ausgeschlossen.
Vor den Fenstern der Reha-Klinik "Hohe Warte" in Bayreuth hängt Schnee in den Bäumen. Seit dem Unfall sind 14 Monate vergangen. Der Raum wird von Neonlampen in ein steriles Licht getaucht. Es riecht nach Schweiß, Anstrengung und Qual. Physiotherapeutin Michaela Brabletz ruft: "Martin, bist du noch da?" Es dauert drei Sekunden, bevor er schwach "Ja" antwortet. Er trägt eine schwarze Sporthose, so eine trug er auch am Tag seines letzten Ringkampfes. Die schwarz-rot-goldenen Streifen an der Seite sind fast herausgewaschen. Mithilfe eines Gurtes, unzähliger Bänder und zweier Physiotherapeuten hängt Kittners erschlaffter Körper seit knapp einer Minute im sogenannten Stehbrett - einem Ungetüm aus Stahl und Holz. Sein Kreislauf soll trainiert werden, aber weil die Muskeln verkümmert sind, versackt das Blut in den Beinen, sobald er steht, das Gehirn wird unterversorgt. Es droht die Ohnmacht.
Er wirkt zerbrechlich. Die Anstrengung lässt das Gesicht des 29-Jährigen hart erscheinen. Unter der Jacke zeichnen sich die Knochen scharf ab. Seine blonden Haare stehen strähnig vom Kopf weg, die Augen sind rot unterlaufen. Langsam kippt er mit dem Oberkörper nach vorn. Nach einer weiteren Minute flüstert er: "Es geht nicht mehr." Eilig wird Kittner in seinen Rollstuhl heruntergelassen. Bleibt dort zwei Minuten schweigend sitzen und sagt dann: "Lasst es uns noch einmal machen."
Seit rund einem Jahr lebt Martin Kittner schon in der Reha-Klinik. Die Gänge sind lang und düster. 600 Patienten werden hier behandelt, die meisten von ihnen sind querschnittgelähmt. Viele sind bettlägrig, einige dement und verwirrt. Vor jedem Zimmer hängen ein Bündel weißer Plastikumhänge, Handschuhe und Desinfektionsmittel. Furchtbar praktisch. An einigen Türen kleben weiße Hinweisschilder auf Patienten mit sogenannten multiresistenten Erregern, Bakterien, die gegen eine Vielzahl Antibiotika immun sind. Im großen Speisesaal baumeln verstaubte und ausgeblichene Weihnachtssterne aus Stroh von der Decke. Spinnen haben daran ihre Netze gebaut.
Martin Kittner sitzt in seinem Rollstuhl an einem runden Tisch. Freundin Bettina Kempf hat ihn hereingeschoben. Schnell wischt sie ihm noch eine Haarsträhne aus dem Gesicht, zieht den schwarzen Schal gerade, hält ihm Apfelsaft mit einem Strohhalm hin. Sie erledigt all das, was er nicht mehr kann, scheint blind zu wissen, was sie tun muss. Mit viel Liebe im Blick schaut Kittner danach zu ihr hinüber, blinzelt ihr vertraut zu. Sie lächelt zurück.
Er hat Fortschritte gemacht. "Es geht sehr langsam voran", sagt er. Inzwischen kann er den rechten Arm beugen und strecken. Damit wäre er in der Lage, einen Elektrorollstuhl selbst zu steuern. "Greifen funktioniert gar nicht." Es hört sich wie eine Entschuldigung an. Zu groß ist sein Schmerz, dass er mehr noch nicht gelernt hat. "Richtig glücklich war ich im vergangenen Jahr nie", sagt er. Kleine Erfolge zählen für ihn nicht. "Natürlich will ich irgendwann wieder meine Arme bewegen und laufen können." Die Ansprüche sind hoch. So erklärte sein Bruder Markus, ebenfalls Ringer, kürzlich trotzig: "Wir haben uns nicht mit der Situation abgefunden. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen." Als hätten sie etwas zu entscheiden.
Tränen kann er nicht wegwischen, nur beherrschen
In den Tagen nach dem Unfall musste Martin Kittner um sein Überleben kämpfen. Den Kopf in einem Metallring festgeschraubt und die Halswirbel lang gezogen: So lag er in einer Spezialklinik in Schweinfurt. Das Rückenmark sollte entlastet werden, das durch die starken Kräfte, die bei dem Sturz auf die Wirbelsäule eingewirkt hatten, angeschwollen war. Es kam zu Durchblutungsstörungen, absterbende Zellen setzten schädliche Substanzen frei, und die Lähmung schritt immer weiter voran. Schließlich konnte er nicht mehr selbstständig atmen, Sauerstoff musste durch einen Luftröhrenschnitt in seine Lunge gepumpt werden. Erst eine riskante Operation rettete sein Leben.
Wenn Kittner vom Tag des Unfalls und dem Moment seiner Verletzung erzählt, wirkt er noch immer überrascht, dass es nicht mal geknackt habe, als die Wirbel im Nacken brachen. Nie hätte er gedacht, dass man sich beim Ringen so schwer verletzen kann. "Das Schlimmste, woran ich gedacht hätte, wäre vielleicht ein Kreuzbandriss gewesen", sagt er. Seine Stimme ist brüchig, sein Blick flackert durch den Raum. Trotzdem wirkt Kittner seltsam distanziert. Geht es um Gefühle, verschanzt er sich hinter Floskeln. Sagt: "Das wird schon wieder." Oft weicht er aus, antwortet: "Ich weiß es nicht." Als fürchte er die Wahrheit. Nach endlosen Minuten sagt er plötzlich: "Glauben Sie mir, wenn ich allein bin, dann kommen die bitteren Stunden. Dann ist plötzlich alles wieder da. Der ganze Scheiß." Tränen sammeln sich in den Augen. Er kann sie nicht wegwischen, nur beherrschen. Sein rechtes Bein beginnt zu zittern. Bettina Kempf, die er liebevoll Betti nennt, legt ihre Hand auf den Oberschenkel und stoppt das Schütteln.
Auch Matthias Fornoff, Mitte 40, plagt die Erinnerung an Kittners Verletzung. Er saß damals auf der Trainerbank, war ganz nah dran. Fornoff ist begeisterter Ringer, er arbeitet auch immer noch als Trainer. Aber die Leichtigkeit ist weg. "Sehe ich meinen kleinen Sohn auf der Matte ringen, habe ich Angst", sagt Fornoff. Er bekommt die Bilder des Unfalls nicht aus dem Kopf. "Das ist eigentlich Quatsch, aber ich kann nichts tun."
In jeder freien Minute haben sie trainiert
Beinahe täglich besucht er Kittner in der Klinik. An den Wochenenden holt er ihn zu sich nach Hause. "Ich habe 20 Jahre lang als Erzieher mit behinderten Kindern in einem heilpädagogischen Zentrum gearbeitet", sagt Fornoff. "Martin hat für das Ringen gelebt." In jeder freien Minute habe man gemeinsam trainiert. Als Mediengestalter in der Druckerei seines Vaters habe sich Kittner die Zeit einteilen können. Beide hatten das große Ziel vor Augen: Olympia 2008. Kittner wäre mit knapp 30 Jahren im besten Ringeralter gewesen.
Spendenkonto …
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Kontoinhaber: Athleten-Club Lichtenfels e. V.;
Skto. Martin Kittner; Konto Nr. 909 48 55;
BLZ 783 500 00 (Sparkasse Lichtenfels).
Für Spendenquittung Adresse angeben
Fornoff grübelt noch immer über der Frage, ob der Unfall hätte verhindert werden können. Wie es Ringer häufig tun, musste Kittner vor dem Kampf, wie sie es nennen, "Gewicht machen". Er wog wenige Stunden davor 63 Kilo, drei zu viel für seine Gewichtsklasse. Dabei hatte er schon tagelang nichts gegessen und kaum mehr getrunken, hatte versucht, bis mittags zu schlafen, damit Hunger und Durst nicht zu groß wurden. "Das ist normal in unserem Sport", sagt Fornoff. Ein paar Wochen zuvor hatte Kittner sich für ein Turnier sogar auf 55 Kilo heruntergehungert, damit lag er zehn Kilo unter seinem normalen Gewicht. Ein gefährlicher Magerwahn, den Fornoff zu erklären versucht: "Im Zweikampf Mann gegen Mann sind große, leichte Athleten deutlich im Vorteil." Kittner zog sich also drei Schichten Trainingsklamotten übereinander an und rannte stundenlang um die Halle - bis er mit dem Schweiß die überschüssigen Pfunde aus dem Körper gespült hatte.
"Als Martin fiel", sagt Fornoff, "fehlte ihm die Körperspannung. Er wirkte für ein paar Sekunden wie abwesend." Rebellierte Kittners Körper gegen die Qualen? Wissenschaftlich erwiesen ist, dass bereits leichter Wassermangel die motorische Koordination einschränken kann und das Reaktionsvermögen deutlich nachlässt. Fornoff schweigt. Er wirkt nachdenklich und schüttelt immer wieder den Kopf. Dann sagt er: "Martin sollte froh sein, dass er noch lebt. Es geht ihm doch gut. Er kann reden, man kann ihn drücken und mit ihm Spaß haben. Lieber behindert als tot."
Doch Martin Kittner will so nicht weiterleben. Unerträglich ist ihm der Gedanke, immer auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Das hat er für sich klargemacht, in einer der vielen einsamen, schier endlosen Nächte. Andere würden womöglich den Tod herbeisehnen. Kittner aber ist durch und durch Leistungssportler - zutiefst davon überzeugt, sein Schicksal zwingen und die Behinderung niederringen zu können. Noch auf der Intensivstation begann er mit seinem Training. "Ich wollte wieder allein atmen können." Also bat er immer öfter die Schwestern darum, den Beatmungsschlauch zu entfernen. Lag dann in seinem Bett und schnappte nach Luft. "Ich hatte oft Angst zu ersticken." - "Man musste dich schon bremsen", sagt Bettina Kempf. Er antwortet: "Aber irgendwann funktionierte es wieder ganz gut."
Er will an Heilung glauben
Kittner braucht niemand, der ihn motiviert. Er war schon als Ringer fleißig im Training. Jeden Morgen wartet er heute darauf, endlich aus dem Bett gehoben zu werden und zur Physiotherapie zu dürfen. Zwei Stunden am Vormittag, dann Mittagessen, kleine Pause, danach noch mal zwei Stunden. Seit einem Jahr geht das so, fast jeden Tag. Kittner will keinen Elektrorollstuhl, denn er gibt die Hoffnung nicht auf, sich irgendwann auch in einem normalen Rollstuhl allein fortbewegen zu können. Er will an Heilung glauben. Dieser letzte Traum, der ihm geblieben ist, darf einfach nicht platzen.
Eine Situation, in der ein Gedanke schnell zur fixen Idee wird. Martin Kittner hat seine im Fernsehen gefunden. Dort wurde über eine Behandlung bei Dr. Huang Hongyun in Peking berichtet. Der chinesische Arzt bietet Querschnittgelähmten die Transplantation von Stammzellen ins Rückenmark an. Die Zellen, die von abgetriebenen Föten stammen, sollen helfen, die geschädigten Nervenzellen wieder miteinander zu verknüpfen. "In Deutschland ist eine solche Behandlung verboten", sagt Kittner. Freundin Bettina Kempf atmet an der anderen Seite des Tisches hörbar durch. Sie macht sich Sorgen. "Ich bin davon nicht begeistert", sagt sie. Nicht wegen des Geldes - eine Operation kostet 20.000 Euro, zahlbar im Voraus. Das Geld hat er bereits zusammen, sein alter Verein Lichtenfels hat es für ihn gesammelt.
Viele ausländische Wissenschaftler werfen Huang Scharlatanerie und unsaubere Arbeitsmethoden vor. Tatsächlich ist beinahe alles, was er preist, unbewiesen, sogar hoch riskant. Rainer Abel, Chefarzt in der Klinik "Hohe Warte", sagt: "Wenn ich daran denke, wie viel Mühe wir uns geben, dass das Rückenmark nicht weiter geschädigt wird, halte ich es für Wahnsinn, wieder an der bereits operierten Stelle herumzuarbeiten. Die Gefahr von neuen Schäden ist hoch, auch das Infektionsrisiko." Niemand weiß bisher, welche Folgen die Transplantation von Stammzellen in den menschlichen Organismus hat. Gar steht die Therapie im Verdacht, Krebs auslösen zu können.
"Ich will es versuchen"
Huang verspricht dagegen viel: "Wir wissen zwar nicht, warum, doch bereits wenige Tage nach der Operation kehren einige Körperfunktionen zurück", sagt er. Eine Studie mit Huangs Patienten an der Züricher Uni-Klinik Balgrist kommt allerdings zu einem anderen Ergebnis. Die Stammzellentherapie wird dort als "der größte Menschenversuch bei chronischen Rückenmarkverletzungen" bezeichnet. Das vernichtende Fazit: "Huangs Methode hilft den Patienten nicht." Martin Kittner kennt die Argumente. "Ich will es versuchen", sagt er trotzdem. Und zum ersten Mal klingt sein Stimme fest.
Abel gibt sich wenig Mühe, seinen Ärger über diese Entscheidung zu verbergen. Dafür gibt es viele Gründe. Er ist frustriert, fühlt sich als Arzt angegriffen: "Wir sitzen hier ja auch nicht dumm rum und tun nichts." Und er warnt: "Christopher Reeve ist nur daran gestorben, dass er um die Welt jettete und hinter jeder Therapie her war." Der amerikanische "Superman"-Darsteller war nach einem Sturz vom Pferd ebenfalls vom Hals abwärts gelähmt.
Rainer Abel plagen außerdem moralische Bedenken. "Huang sitzt direkt neben einer Abtreibungsklinik, so hat er Zugriff auf viel Material. Sie müssen wissen, das ist ein Geschäft, mit dem man kräftig Geld verdienen kann." Und zu guter Letzt sei es seine Erfahrung als Arzt, die ihm sage, dass Martin Kittner einen Fehler begehe. Vielleicht poltert er deswegen: "Herr Kittner ist noch immer damit beschäftigt, darauf zu warten, dass sich seine Arme und Beine wieder bewegen."
Er kann sich kein neues Leben vorstellen
Tatsächlich hat sich Martin Kittner bisher nicht auf den Weg in ein neues Leben gemacht. Er kann sich keines vorstellen. Derzeit wird im Haus seiner Eltern eine behindertengerechte Wohnung gebaut - mit einem Raum voller Trainingsgeräte. Seine Freundin, die noch in Würzburg studiert, will später zu ihm ziehen. Bis dahin kümmern sich seine Mutter und ein Freund um ihn. Ob er wieder als Mediengestalter arbeiten will? Mit einem speziellen Computer wäre das möglich. Immerhin ein Anfang. Schulterzucken bei Kittner, Schweigen. Auch das eine Frage, die er sich nicht stellt.
Seit über einem Jahr ist die Klinik nun seine Heimat. "In der Regel entlassen wir Patienten wie ihn nach vier bis sechs Monaten. Bei dieser Art Verletzung gibt es nur ein sehr enges Zeitfenster für Verbesserungen", sagt Oberarzt Abel. Doch Kittner bleibt. Er teilt sich ein knapp zehn Quadratmeter großes Zimmer mit immer neuen Patienten. Warum er noch hier ist? Abel sagt: "Aus medizinischer Sicht sehe ich keinen Grund." Kittner überlegt lange, scheint unsicher, dann sagt er: "Ich möchte die Zeit für intensives Training nutzen, das geht im Krankenhaus einfach am besten." An seinem Schrank kleben bunte Postkarten mit Comicfiguren und Sprüchen wie "Mit einem Lächeln geht es besser".
Martin Kittner sitzt oft am Fenster und schaut hinaus. Sein Blick geht den Berg hinunter, nach Bayreuth. Es scheint weit weg. Das ist seine Sicht auf das Leben.