Behutsam, beinahe liebevoll, streicht Enno Quast mit einem blauen Tuch über den schwarzen Rahmen seines Fahrrads. Vorsichtig hebt er das 2000 Euro teure Hightech-Gerät auf einen Montageständer, dreht langsam an den Pedalen, drückt die Bremsen, schaltet durch die Gänge. Eile hat er nicht. Aber eigentlich müsste der 15-Jährige vor dem Fernseher sitzen. DAS Ereignis für jeden Radsportler, die Tour de France, geht schließlich in die entscheidende Phase. Die Königsetappe steht hinauf nach Aubisque an. Doch Enno beschäftigt sich an diesem Mittag lieber mit seinem eigenen Fahrrad. Ihm ist egal, welcher Ausreißer gerade dem Gipfel erklimmt, welchen Rückstand das Feld hat oder wie sich die deutschen Fahrer schlagen. Er hat genug von der Tour, ist tief enttäuscht, der Doping-Befund beim Spitzenfahrer Alexander Winokurow hat ihm den letzten Spaß an der großen Schleife genommen. "Ich fühle mich betrogen", sagt der Jugendliche mit den kurzen blonden Haaren.
Begeistert von der Geschwindigkeit
Enno Quast ist Radsportler mit Leib und Seele. Er ist einer von rund 25.000 Jugendlichen, die in 2500 Vereinen in Deutschland ihrem Lieblingssport nachgehen. Doch in diesen Wochen ist es nicht einfach, ein junger Radfahrer zu sein. Erst die Geständnisse der deutschen Stars Zabel, Jaksche und Aldag, dann die Überführung von Patrik Sinkewitz, der TV-Ausstieg von ARD und ZDF, jetzt der Skandal um Winokurow. Zudem schwebt der Fall Jan Ullrich seit Monaten über der Szene. Der Radsport steckt in seiner größten Krise, weil langsam klar wird, dass die meisten Stars lügen und betrügen. Aber Betrüger taugen nicht zu Vorbildern.
Vorbilder waren Ullrich und Co vor neun Jahren, als Enno Quast seine Leidenschaft für den Radsport entdeckte. Wie die meisten seiner Altersgenossen jagte er bis dahin noch dem runden Leder hinterher. Doch Fußball war schnell passé, als er zum ersten Mal ein Radrennen direkt vor der Haustür bewundern konnte. "Ich war begeistert von der Geschwindigkeit, von der Technik. Fußball hat jeder gemacht, ich wollte was anderes machen." Zusammen mit seinem rund zwei Jahre älteren Bruder tritt er in einem Verein bei. Schnell stellen sich die ersten Erfolge ein. Der Ehrgeiz wächst und mit ihm die Trainingsintensität. Mittlerweile trainiert Enno fünfmal in der Woche, reist quer durchs Land zu Rennen, gewinnt reihenweise Pokale.
Nie war Radfahren so populär in Deutschland wie zu den großen Zeiten von Jan Ullrich. Stundenlang hängen die beiden Brüder Enno und Ole bei den Übertragungen der Tour vor der Glotze. Bald erkennen sie die Fahrer allein an ihrem Fahrstil, bemerken jeden kleinen Fehler bei den Ansagen der Moderatoren. Sie saugen alle Informationen über die Stars Ullrich, Marco Pantani oder Lance Armstrong auf, hängen sich Poster an die Zimmerwand. Doch diese Zeiten sind vorbei. Aber nicht nur, weil die Teenager mittlerweile eher für hübsche Frauen als für verschwitzte Sportler schwärmen. Auch und vor allem, weil das Geschwür Doping ihren Sport infiziert hat und dabei ist, ihn zu zerstören.
Der Traum vom Profi
Enno Quast sitzt in seinem grauen Trainingsanzug im Esszimmer der elterlichen Wohnung. Auf einem Schrank liegt die Mitgliederzeitung des Radsportverbands, vom Titelblatt grinst der deutsche Tour-Etappensieger Linus Gerdemann. "Profi zu werden, ist mein Traum", sagt Enno Quast. "Aber die Dopinggeschichten schrecken mich schon ab." Dabei hatte er - wie so viele Radsportfans - vor Beginn der Tour auf Besserung gehofft. "Ich dachte, dass die Dopinggeschichten endlich ein Ende haben. Ich habe mich auf die Übertragungen gefreut." Doch diese Hoffnung zerplatzte schnell. "Ich war wohl zu naiv", sagt Quast und nippt nachdenklich an seinem Wasser.
Die Verwirrtheit des Jugendlichen ist spürbar. Sobald das Thema Doping zur Sprache kommt, ringt der sonst so eloquente 15-Jährige mit den Worten. Einerseits spricht er davon, dass er Verständnis für die dopenden Profis habe. Schließlich würden es ja alle tun. Doch dann schüttelt er den Kopf und meint: "Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Ich verstehe einfach nicht, warum Sinkewitz und Winokurow das getan haben. Damit zerstören sie meinen Sport."
Ähnlich hin und hergerissen sind auch Ennos Eltern. Sie sind stolz auf ihrer Söhne und unterstützen sie bedingungslos. Sogar einen Wohnwagen haben sie sich gekauft, um den Sprösslingen auf die Rennwochenenden begleiten zu können. Doch in der Radsportfamilie Quast wird natürlich auch das Thema Doping diskutiert. "Ich mache mir schon Sorgen, in welches Umfeld ich meine Söhne entlasse", sagt Vater Volker Quast, selber jahrelang Präsident des Vereins seiner Söhne. "Aber Radsport ist ihr Lebensinhalt, und wir können und wollen sie nicht mehr umlenken."
Die Quasts werden also in nächster Zeit sowohl mit den negativen Schlagzeilen über den Radsport als auch mit den vorwurfsvollen Fragen und Sticheleien von Bekannten, Freunden und Lehrern leben müssen. Aber an Aufhören denkt Enno nicht. Vielmehr schaut er nach vorne und denkt an die Deutsche Bahnradmeisterschaft in wenigen Wochen. Dort will er unbedingt einen vorderen Platz erringen. Denn: "Ich möchte trotz des Dopingskandals den Spaß an dem Sport behalten."