Der Fall der Eiskunstläuferin Kamila Walijewa bewegt nicht nur die olympische Welt, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf den Umgang und die Trainingsmethoden im russischen Eiskunstlauf. Wie kann es überhaupt sein, dass eine 15-Jährige gedopt wurde? Was für ein System steckt dahinter?
Walijewa gewann in Peking Gold mit der Mannschaft. Einen Tag später wurde bekannt, dass sie am 25. Dezember während der russischen Eiskunstlauf-Meisterschaften positiv auf das Herzmittel Trimedazidin getestet worden war. Die russische-Anti-Doping-Agentur Rusada sperrte Walijewa, nur um die Entscheidung einen Tag später wieder zurückzunehmen. Dagegen klagten das Internationale Olympische Komitee und die Internationale Test-Agentur vor dem internationalen Sportgerichtshof Cas – und verloren. Walijewa darf im Einzelwettbewerb an den Start und um Gold kämpfen.
Der Einzelwettbewerb ist der Lächerlichkeit preisgegeben
Jenseits des Streits um das Doping einer 15-jährigen Athletin wird der Einzelwettbewerb der Eiskunstläuferinnen nun unter dem Schatten der Ereignisse stehen. Niemand kann vorhersagen, ob Walijewa nicht doch noch gesperrt wird. Das Verfahren ist nicht abgeschlossen. Der Wettbewerb ist entwertet, die Konkurrenz verständlicherweise genervt.
Doch wenn das junge Wunderkind am Dienstag mit dem Kurzprogramm startet, wird es dem russischen Team herzlich egal sein, ob der Rest der Welt mit größtmöglicher Skepsis auf sie blickt. Im Gegenteil, es heißt wieder: Russland gegen den Rest der Welt. Man hofft man auf einen ähnlichen Erfolg wie bei den Spielen in Pyeonchang 2018, als Alina Zagitova und Jewgenija Medwedewa Gold und Silber gewannen. Damals wie heute hieß die Trainerin, die an der Bande die Kür ihrer Schützlinge verfolgt, Eteri Tutberidse. Sie ist die Macherin des russischen Eiskunstlauf-Wunders – und höchst umstritten.
Rafael Arutyunyan, Trainer von Olympiasieger Nathan Chen, verglich die Karrieren der russischen Eiskunstläuferinnen mit Einweg-Kaffeebechern, weil die kurzlebig wären. Den Namen Tutberidse erwähnte er nicht, das war nicht notwendig, jeder in der Welt des Eiskunstlaufs wusste, wer gemeint ist.
Möglichst jung möglichst schnell in die Weltspitze
Das System Tutberidse sieht vor, junge Sportlerinnen möglichst schnell in die absolute Weltspitze zu führen. Die frühere Eiskunstläuferin, die selbst nie höchstes Niveau erreichte, ist dabei so erfolgreich, dass sie vom russischen Staat die größtmögliche Unterstützung erhält. Ihre Schülerinnen stellen seit sieben Jahren die russische Meisterinnen. Walijewa gelangen als erster Frau zwei Vierfach-Sprünge bei Olympia. Die Grenzen des Machbaren werden stets erweitert. Das hat einen hohen Preis: Die Läuferinnen erreichen schnell ihren Zenit und sind danach schnell weg.
Sagitova wurde nach ihrem Olympia-Sieg noch Weltmeisterin, dann nahm sie ein Jahr Pause, weil sie sich nicht mehr habe motivieren können. Sie verlor regelmäßig gegen Jüngere, die Vierfach-Sprünge zeigten. Aktuell widmet sie sich ihrer TV-Karriere. Julia Lipniskaya, die 2014 einen großen Anteil am Team-Gold der Russen hatte und Tutberidse als Trainerin den Durchbruch brachte, beendete ihre Karriere mit 19 Jahren. Sie gestand, während ihrer Zeit als Eiskunstläuferin an Magersucht gelitten zu haben. Die kasachische Läuferin Elisabet Tursynbajewa, die ebenfalls bei Tutberidse trainierte, gab nach einer Reihe von Verletzungen auf. Die Silbermedaillen-Gewinnerin von Pyeongchang, Medwedewa, wechselte zum kanadischen Trainer Brian Orser. Zu den Gründen sagte sie unter anderem, sie wolle "mit einem Trainer wie mit einem Freund" zusammenarbeiten.
Ein 15-jähriges Jahrhundert-Talent schreibt Olympia-Geschichte

Dass die 15-Jährige Walijewa des Dopings überführt wurde, war offenbar ein Fehler im System Tutberidse. Beobachter gehen davon aus, dass Walijewa das Mittel möglicherweise zu spät abgesetzt habe. Es wird bevorzugt in den Trainingspausen eingenommen, weil es die Regenerationsphasen verkürzt. Noch verdächtiger wird das System Tutberidse durch den Mannschaftsarzt Filipp Schwetskij. Der Mann hat eine Doping-Vergangenheit. 2007 versorgte er die russischen Ruderer mit entsprechenden Medikamenten und wurde gesperrt. Im vergangenen Herbst tauchte er plötzlich an der Seite von Walijewa auf, was sogar russische Medien wunderte.
Kamila Walijewa wird zur Heldin stilisiert
Im Fall Walijewa wiegt nicht minder schwer, dass ausgerechnet eine russische Athletin erwischt wurde. Zur Erinnerung: Russische Athleten dürfen nicht unter ihrer Landesflagge antreten, weil ihrem Land großflächiges, staatliches Doping nachgewiesen wurde.
Wie unterschiedlich die Sichtweisen zwischen vielen Russen und dem Rest der Welt sind, machten die Reaktionen nach dem Urteil des Cas deutlich. Das Russische Olympische Kommitee, Prominente wie der Eistänzer Nikita Kazalapow und zahlreiche Medien feierten die vorläufige Entscheidung zu Gunsten von Walijewa. Sie wird sogar als Opfer des Westens stilisiert. Einige Medien verstiegen sich zu der These, dass der Westen Walijewa das Medikament sogar untergejubelt habe, selbstverständlich in böser Absicht.
Die Welt-Anti-Doping Wada hingegen kritisierte die Entscheidung des Cas scharf. Die Entscheidung stehe nicht im Einklang mit dem Wada-Code, der "keine spezifischen Ausnahmen in Bezug auf obligatorische vorläufige Suspendierungen für 'geschützte Personen', einschließlich Minderjähriger," zulasse. Der Cas hatte sich in seinem Urteil unter anderem darauf berufen, dass Walijewa erst 15 Jahre alt sei. Zudem seien viele Fragen ungeklärt, wie etwa die übermäßig lange Untersuchungszeit der Probe im Stockholmer Labor. Der Fall Walijewa wird weitergehen.
Quellen: DPA, "Associated Press", "Süddeutsche Zeitung"