Als einen "Flickenteppich unterschiedlicher Bahnsysteme" beschreibt die Organisation "Bahn für Alle", ein Aktionsbündnis von Umweltorganisationen und Gewerkschaften, die Situation auf Europas Gleisen. Die nationalen Schienennetze seien "nicht über Grenzen gedacht" und innerhalb des Kontinents zu wenig harmonisiert. Dabei gilt der länderübergreifende Zugverkehr als wirksames Mittel, um den Flugverkehr zu reduzieren. Dazu braucht es schnelle Verbindungen zwischen europäischen Metropolen und Nachtzüge, die "Renaissance eines europäischen Fernreise- und Nachtzugnetzes", schreibt das Bündnis in einer neuen Kurzstudie.
Deutschland auf Platz 20 von insgesamt 24 Staaten
In dem Bericht geht es um den Harmonisierungsforschritt des Eisenbahnsytems. Aus den Ergebnissen will das Bündnis Handlungsempfehlungen zum Klimaschutz mit Nacht- und Fernreisezügen ableiten. Nach wenigen Monaten zieht Studienleiter Ludwig Lindern ein ernüchterndes Fazit. Demnach steht vor allem die Infrastruktur der Deutschen Bahn einer Harmonisierung des europäischen Bahnverkehrs im Wege.
In der Gesamtbewertung, die auf vier Kriterien fußt, erhielt Deutschland die Schulnote vier und belegte damit Rang 20 unter insgesamt 24 untersuchten Länder. Lediglich Estland und Lettland schnitten schlechter ab. Allerdings werden die beiden Staaten durch das "Rail Baltica"-Projekt, das die Hauptstädte im Baltikum verbindet, bald "in der Rangliste aufstiegen" und Deutschland überholen.
"Die unzureichende Anpassung der deutschen Bahninfrastruktur an internationale Standards bremst den Fernreise- und Nachtzugverkehr in ganz Europa aus", zitiert die "Tagesschau" Ludwig Lindern. In fast allen Bewertungskategorien weicht Deutschland vom europäischen Standard ab. Da wär zum einen die Höhe der Bahnsteige, die in den meisten Ländern 55 Zentimeter beträgt. Hierzulande sind es in der Regel 76 Zentimeter, was einen barrierefreien Fernverkehr erschwert. Während die Bahn in Deutschland mit einer Spannung von 15 kV und einer Frequenz 16,7 Hz fährt, hat sich als europäischer Standard ein Netz mit 25 kV und einer Frequenz von 50 Hz durchgesetzt. Dies habe den Vorteil "dass kein separates Bahnstromnetz betrieben werden muss, sondern der Strom mit vergleichsweise geringem Aufwand aus der allgemeinen Stromversorgung des europäischen Verbund-Stromnetzes entnommen werden kann", heißt es in dem Bericht.
Die Deutsche Bahn hinkt hinterher
Die Deutsche Bahn hingegen verweist nach einer Anfrage des SWR auf die modernen Mehrtriebwagen, die unabhängig von Frequenz und Spannung auf der Oberleitung fahren können. Zudem würde die Umstellung auf das europäische Stromnetz mit dem Umbau von "Oberleitungen auf circa 20.000 elektrifizierten Streckenkilometern sowie dem Neubau von Tunneln und Brücken einhergehen", erläutert das Unternehmen. Allerdings verursachen die Unterschiede in den Stromnetzen Mehrkosten und die allseits bekannten "Verzögerungen im Betriebsablauf".
Schließlich hinkt Deutschland auch in puncto Zugsicherungstechnik hinterher. Vor einigen Jahren einigte man sich auf die Einführung des European Train Control System (ETCS) als europaweites, einheitliches System. Doch der Ausbau läuft in den einzelnen Ländern unterschiedlich schnell. In der Schweiz und in Luxemburg ist bereits das gesamte Schienennetz damit ausgestattet, in Deutschland hingegen nur etwa 400 Kilometer. Auf die Nachfrage des SWR antwortet die Bahn vage: "Bis 2035 erneuert die DB die Leit- und Sicherungstechnik im Schienennetz grundlegend, unter anderem durch den Flächen-Rollout des europäischen Zugbeeinflussungssystems ETCS (European Train Control System)."

Darüber hinaus gibt es einen weiteren Kritikpunkt: Deutschland hat die europaweite Genehmigung von Zügen im Personennahverkehr blockiert, bemängelt Josef Doppelbauer, leitender Direktor der europäischen Eisenbahn-Agentur, im Bericht der "Tagesschau". Reisezugwagen benötigen stets eine nationale Zulassung – ein teures auf aufwendiges Verfahren. Dieses sollte 2019 durch eine europaweite Zulassung ersetzt werden, doch Deutschland legte ein Veto ein. Doppelbauer hofft bei der nächsten Abstimmung kommenden Februar auf ein positiveres Ergebnis.
Die Bahn hat das neue Design für den ICE vorgestellt: Gemütlichkeit bei Tempo 300

"Es gilt zu entscheiden, ob man auf lange Sicht im grenzüberschreitenden Verkehr auf teure Multisystemloks setzen will oder ob – mit zunächst hohem Ressourceneinsatz – die Systeme harmonisiert werden, um dann den Bahnverkehr langfristig deutlich flexibler und kostengünstiger betreiben zu können", mahnt Ludwig Lindern. Lediglich bei der Spurweite, die den Innenabstand zwischen den Schienen angibt, erfüllt Deutschland den europäischen Standard von 1,435 Millimeter. Ein Anfang, aber für den Beitrag zum Klimaschutz im Verkehrssektor zu wenig, findet das Bündnis "Bahn für Alle". Um mehr Flüge auf die Schienen zu verlagern, müsse "Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft und geographisch in der Mitte gelegen bei der Vereinheitlichung vorangehen und nicht hinterherhinken", so das Fazit des Studienautors.
Quellen: "Bahn für Alle", "Tagesschau"