Deutschland im Sommer 2010: über 30 Grad im Schatten, tropische Hitze. In Gärten und auf Balkonen verdorren die Pflanzen, der Asphalt der Autobahnen schmilzt dahin, Fernzüge verwandeln sich in Saunen, und Ventilatoren und Kühlgeräte treiben den Stromverbrauch allerorten in Rekordhöhen. Als ob es nicht schon genügend unerfreuliche Begleiterscheinungen der Hitze gäbe, nun auch noch diese Nachricht: Brötchen sollen teurer werden, ebenso Bier, Kartoffeln, Pommes Frites, Milch, Obst und Gemüse.
Das jedenfalls berichten diverse Zeitungen seit dem Wochenende. Auslöser für diese Schwarzmalerei war ein Interview der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ilse Aigner (CSU) berichtete in der "Bild am Sonntag" von drastischen Ernteausfällen bei deutschen Bauern und spekulierte über "Auswirkungen auf den Markt". Durch ein knapperes Angebot könnte es "in einigen Bereichen durchaus zu Preissteigerungen kommen", so die Ministerin. Man müsse die Ernte zwar abwarten, aber es sei denkbar, "dass das Preisniveau auch für Grundnahrungsmittel etwas steigt", sagte sie der Zeitung.
Steigende Preise? Die Hitze ist Schuld, so einfach ist das. Diese Botschaft verbreiten Lobbyverbände aus der Landwirtschaft seit geraumer Zeit:
- Vor knapp zwei Wochen warnte der Bundesverband der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie (BOGK): Aufgrund der "trockenen und warmen Witterung" werde "die Frühkartoffelzeit in den kommenden Wochen von knapper Versorgung und hohen Preisen gekennzeichnet sein."
- Auch Brötchen sollen teurer werden. Manfred Weizbauer vom Verband Deutscher Mühlen (VDM) sagte der "Welt" vor einer Woche: "Die Mehrkosten durch eine schlechtere Ernte müssen weitergegeben werden." Der Kostendruck sei enorm, und es gebe derzeit keine Anzeichen für eine Preisentspannung.
- Selbst bei Futtermitteln wie Mais, Zuckerrüben und Gras sollen bereits Engpässe auftreten, berichten regionale Bauernverbände, die Rinderhalter gerieten so ebenfalls unter Druck.
- Auch Gerd Sonnleitner, Chef des Deutschen Bauernverbandes, beklagt landauf, landab massive Ernteausfälle und warnt vor höheren Preisen vor allem bei wenig verarbeiteten Lebensmitteln wie Obst, Gemüse, Kartoffeln und Milch.
Da haben wir den Salat. Kaum gibt es mal ein paar heiße Tage, schon wird alles teurer. Ein verknapptes Angebot führt zu höheren Preisen: Klingt ja irgendwie ganz logisch, findet offenbar selbst Bundesministerin Ilse Aigner. Doch die Gleichung hat ein paar Schönheitsfehler.
"Die Getreidesilos sind rappelvoll"
Erstens: Berichte über landesweite Rekordmissernten sind eine arge Übertreibung. Zwar gibt es in einigen Regionen tatsächlich heftige Ausfälle, doch in anderen Gebieten fällt der Ertrag dieses Jahr auch besonders gut aus. "Das hängt vor allem von der unterschiedlichen Bodenbeschaffung ab", sagt Bernhard Rüb von der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen zu stern.de. Am Niederrhein beispielsweise gebe es schlechtere Erträge, in der Region Lippe bessere. "Insgesamt gesehen ist die Ernte in NRW nicht schlecht." Außerdem galt 2009 als besonders ertragreiches Jahr, von den Lagerbeständen lässt sich noch lange zehren. "Die Getreidesilos sind rappelvoll", weiß Amin Werner vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks.
Zweitens: Die Kosten der Grundrohstoffe spielen bei vielen Lebensmitteln nur eine geringe Rolle. Zum Beispiel bei Brötchen macht der Anteil des Getreidepreises rund einen Cent aus. Und so sagt auch Amin Werner zu stern.de: "Brötchen werden wegen steigender Getreidepreise nicht teurer."
Drittens: Bestimmt wird die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln überwiegend von anderen Faktoren als dem Ernteergebnis. So sorgt etwa eher die anziehende Konjunktur dafür, dass die Produkte im Supermarkt wohl wieder deutlich teurer werden. In den vergangenen Monaten hat der starke Preisverfall zu einem niedrigen Niveau wie schon seit Langem nicht mehr geführt. Experten erwarten hier bald die ersten Korrekturen. Werner vom Bäckereiverband sagt: "Sollten die Brötchenpreise steigen, dann vor allem wegen höherer Lohnkosten." Und die Preise von Gütern, die global gehandelt werden, entstehen an den Börsen - da ist eine Menge Spekulation wie bei Aktien mit im Spiel. Bernhard Rüb von der NRW-Landwirtschaftskammer sagt: "Weizen ist das neue Rohöl."
Aigner findet höhere Preise gut
In diesem Licht erscheint das Heulen und Zähneklappern der deutschen Bauern nicht ganz uneigennützig. So bitter es auch ist: Die meisten Verbraucher schrecken über angebliche Missernten erst auf, wenn sie die Auswirkungen direkt zu spüren bekommen - im Geldbeutel. Und eine breite Aufmerksamkeit für die Thematik wünschen sich die Lobbyverbände dringend. Bauernpräsident Gerd Sonnleitner hat nämlich ein konkretes Anliegen: Die Bundesregierung solle den Landwirten endlich eine Risikoausgleichsrücklage gewähren. "Durch Wetterextreme wie zu dieser Ernte 2010 sind Preis- und Einkommensschwankungen für die Bauern unkalkulierbar geworden", sagte Sonnleitner dem "Focus".
Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner findet im Übrigen höhere Preise gar nicht so schlecht: Damit steige "vielleicht auch die Wertschätzung der Verbraucher für Lebensmittel", sagte sie der "Bild am Sonntag". Anders ausgedrückt: Gut ist, was teuer ist - wieder so eine einfache Formel.