Hat eigentlich schon jemand vorgeschlagen, den Euro mit dem Oscar auszuzeichnen? Immerhin ist es die beste schauspielerische Leistung, die eine Währung seit zwei Jahren erbracht hat. Ständig tut er so unschuldig und behauptet, dass mit ihm keineswegs alles teurer geworden sei. Eine glatte Lüge. Statt golden und silbrig zu glänzen, müsste er längst rot vor Scham werden. Zum Beispiel im Friseursalon Habich in Freiburg. Waschen und Legen für Damen kostete hier noch 17 Mark, bevor der Euro kam; heute sind es 16,50 Euro - ein Preisanstieg um 90 Prozent. Nicht viel besser schaut es in fast jedem x-beliebigen Restaurant aus, wie etwa dem "Da Luigi" in Bitburg. Der Padrone verlangte dort vor drei Jahren für Spaghetti Bolognese 9,50 Mark, heute nimmt er 6 Euro: ein Preisanstieg um 23 Prozent. Dabei ist das für Gaststättenverhältnisse noch harmlos. Bei manchen Wirten hat man das Gefühl, sie haben die Ziffern gleichgelassen und einfach DM durch Euro ersetzt.
Wo man auch hinschaut: überall saftige Preiserhöhungen. Die besonders Ausgebufften hatten schon ein paar Monate vor der Euro-Einführung an der Schraube gedreht - egal ob im Billigsegment oder beim Teuersten. So kostet die "Bild"-Zeitung (Bundesausgabe) heute 39 Prozent mehr als im Jahr 2000. Für das Okal-Standardfertighaus mit 100 Quadratmeter Wohnfläche wird 17 Prozent mehr verlangt als vor drei Jahren. Seit der Euro am 1. Januar 2002 im Umlauf ist, erzählen uns die Preisbeobachter beim Statistischen Bundesamt, dass es zu keiner nennenswerten Teuerung gekommen sei - eine Behauptung, die unserem Gefühl diametral widerspricht. Der stern wollte es zwei Jahre nach Einführung der neuen Währung deshalb genau wissen und schickte Reporter quer durch Deutschland auf Preisrecherche. Zeitgleich ermittelte auch das Institut für Angewandte Verbraucherforschung in Köln, wie sich die Preise im Euro-Zeitalter verändert haben: Was wurde billiger, was teurer?
Das Ergebnis wird selbst kühle Wirtschaftsexperten überraschen, die zwischen "gefühlter" und tatsächlicher Preissteigerung zu unterscheiden wissen. Zahlreiche Produkte sind dramatisch teurer geworden. Da kommen die stern-Recherchen zum gleichen Ergebnis wie die Kölner Verbraucherforscher. Selbst die Experten vom Statistischen Bundesamt beobachten bei zahlreichen Produkten erhebliche Preissprünge. Von 100 ausgewählten Waren und Dienstleistungen, die von den Preisstatistikern amtlich erfasst werden, sind in den vergangenen drei Jahren 46 um mehr als 5 Prozent teurer geworden. Zum Vergleich: die Inflationsrate seit Anfang 2001 bis Ende 2003 betrug 4,5 Prozent. Nach der offiziellen Preistabelle des Statistischen Bundesamts verteuerten sich Bienenhonig um 39, Eier um 15, Rasieklingen um 14 Prozent. Eine Kinokarte kostet im Schnitt 8 Prozent mehr als vor Euro-Einführung, und für das Bier in der Kneipe fordert der Zapfer im Schnitt 7 Prozent mehr als früher.
Im Einzelfall wird noch viel drastischer zugelangt: Die Kilowattstunde Strom kostete vor der Euro-Einführung 27 Pfennig, heute 17 Cent: macht ein Plus von 21 Prozent. Manche Preise wurden bereits vor Einführung der neuen Währung erhöht. Eine Stunde Autoreparatur verteuerte sich seit 2000 um 13 Prozent, der Preis eines Herrenoberhemdes aus dem Versandhauskatalog ist um 30 Prozent gestiegen. Für die Maß Bier beim Oktoberfest zahlt man heute 6,30 Euro statt 11,20 Mark vor drei Jahren - ein Anstieg um 10 Prozent. Zigaretten kosten 18 Prozent mehr als im Jahr 2000. Preistreiber ist hier der Staat mit der erhöhten Tabaksteuer. Selbst der käufliche Sex zieht kräftig an: Im Rotlichtviertel von Hamburg gibt's die Standardnummer für 100 Euro. Vor drei Jahren wurde die gleiche Leistung für 150 Mark angeboten. Ein Preissprung von 30 Prozent.
Die Entwicklung der Kaufkraft
So lange musste ein Arbeiter im produzierenden Gewerbe arbeiten, um sich folgende Produkte kaufen zu können, in Stunden (h) und Minuten (min), gemessen am durchschnittlichen Bruttoverdienst
Was ist mit unseren Preisen los? Einerseits wird so vieles teurer. Andererseits brüllen uns täglich aus den Schaufenstern Schlagworte wie "Schnäppchen", "Sale" und "Sensation" an. Sogar schon vor Weihnachten bekam, wer beim Herrenausstatter Anson's zwei Hemden kaufte, ein drittes geschenkt. Peek & Cloppenburg gewährte 20 Prozent Rabatt auf alle nicht reduzierten Waren, Restaurantbesitzer hängten Plakate ins Fenster, auf denen "50 Prozent Ermäßigung auf die Preise der Speisekarte"stand, und an Ampeln klebten Abrisszettel wie der eines Friseurs, der den Haarschnitt für 6 Euro anbot. Wird also alles billiger? Oder doch teurer? Wieso bekommt man, um mal bei den Restaurantbesitzern zu bleiben, plötzlich Preisnachlässe von 50 Prozent? Haben die zuvor vielleicht 100 Prozent draufgeschlagen? Wieso bezahle ich für den DVD-Player nur noch 111 Euro, obwohl er in der Woche zuvor 229 Euro gekostet hat?
Bei den Verbrauchern jedenfalls ist die Preisverwirrung komplett: Es ist die immer noch nicht verinnerlichte Euro-Umstellung und das Rabattkarussell, das bei vielen dazu führt, dass ihr Gefühl für Preise völlig durcheinander gerät. Keiner weiß mehr genau: Was ist fair, was billig und was überzogen? Da hilft auch kein Umrechnen in D-Mark mehr. Was es mit den Preisen wirklich auf sich hat, müsste eine Einrichtung besonders gut wissen: das Statistische Bundesamt. Besuchen wir also den Leiter der Gruppe Preise, Herrn Chlumsky. Das Amt hat seinen Sitz in Wiesbaden. Der 48-jährige Staatsdiener ziert sich auch nicht lange und gibt die vom stern ermittelten Preistreibereien rundweg zu. Er fügt sogar weitere, eigene an. "Es war extrem, was meine chemische Reinigung draufgeschlagen hat." Und seine Kollegin Nadin Engelhardt, 28, mischt sich ein mit der Bemerkung: "Die Autowaschanlage, zu der ich immer fahre, hat den Preis fast verdoppelt."
Räumen die staatlichen Preisstatistiker also endlich ein, dass dieser Euro, verdammt noch mal, alles teurer gemacht hat? Mitnichten. Sie leisten Widerstand und behaupten eisern: "Unser Geld hat durch die Euro-Einführung nichts an Wert verloren." Chlumsky und Engelhardt berechnen jeden Monat die Inflationsrate, die amtsdeutsch "Verbraucherpreisindex" heißt und die durchschnittliche Preisentwicklung von 750 Waren und Dienstleistungen exakt nachzeichnet. Daher weiß Chlumsky auch, dass "das Preisklima ruhig ist und sich das wohl auch nicht so schnell ändern wird." Im Jahr 2003 lag die Inflationsrate bei 1,1 Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit 1999. Wie geht das aber zusammen mit den unbestreitbaren Preissprüngen, die deutlich über der Inflationsrate lagen? Wie kann so vieles teurer werden, ohne dass das Leben - statistisch - insgesamt teurer wird?
Schuld daran ist unsere subjektive Preiswahrnehmung. "Es waren gerade die kleineren Dienstleistungen, die angezogen haben", erklärt Preisexperte Chlumsky das Phänomen der gefühlten Inflation. Also Kino, Kneipe, Friseur - alles Dinge, die traditionell bar bezahlt werden. "Da bemerkt man den Preisanstieg besonders. Man ärgert sich, man redet darüber - und empfindet den Anstieg stärker, als sein Einfluss auf die Lebenshaltungskosten wirklich ist." Dass jeder für den Friseur aber gerade mal ein Prozent seines Budgets ausgibt, oder in Restaurants, Cafés oder Imbissbuden lediglich drei Prozent - wer macht sich das schon bewusst? Die Miete dagegen wird still und heimlich vom Konto abgebucht. Da dieser große Posten beispielsweise durch den Euro aber kaum teurer wurde, drückt sie den durchschnittlichen Preisanstieg - ohne dass wir das wahrnehmen.
Ausserdem merken wir gar nicht, dass manche Preise fallen: Heizöl wurde im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent günstiger, Gas um 2,7 Prozent. Die Kosten für das Telefonieren sanken um 1,6 Prozent. Andere Dinge kauft man nur selten und nimmt Preisänderungen daher einfach nicht wahr. So wurden Computer laut amtlicher Messung um 17 Prozent billiger, Video- und DVD-Geräte sowie Fernseher um 2,1 Prozent. Sie alle fließen genauso in die Berechnung der Inflationsrate ein wie die gestiegenen Preise für chemische Reinigungen und Autowaschanlagen, über die sich so viele Leute geärgert haben. Dennoch hat sich, seit wir mit dem Euro bezahlen, viel verändert - sowohl bei den Verbrauchern als auch im Handel.
Noch nie waren die Deutschen so preisfixiert wie heute. "Geiz ist geil", der Werbeslogan des Elektrohändlers Saturn, wurde zur Einkaufsmaxime der meisten Verbraucher. Schnäppchenjagd ist in. Wer nicht billig kauft, gilt als blöd. Dazu hat sich die Konsumlust in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation, hoher Arbeitslosigkeit und des Umbaus der Sozialsysteme dramatisch abgeschwächt. In Umfragen gibt rund ein Drittel der 14- bis 64-Jährigen an, sparen zu müssen. Ein weiteres Viertel spart freiwillig, weil ihnen die Zukunft unsicher erscheint. Zumindest die Wessis können sich seit zehn Jahren nicht mehr leisten als zuvor. Der reale Nettomonatsverdienst eines Arbeiters im produzierenden Gewerbe stieg in Westdeutschland von 1991 bis 2002 um 1,2 Prozent. 1,2 Prozent reale Lohnsteigerung in elf Jahren - das ist quasi nichts. In den östlichen Bundesländern hat sich die reale Kaufkraft in dieser Zeit dagegen um 38,6 Prozent erhöht.
Auf den Kaufstreik hat der Handel reagiert. Aber nicht für Preisklarheit gesorgt, sondern getrickst und geblufft: Ohne Rabatte, Purzelpreise und Superbillig-Schilder laufe eben nichts mehr, jammern die Händler. Dabei sind Rabatte nicht mal die ausgefeiltesten Methoden, mit denen sie das Preisgefühl ihrer Kunden verwirren und überlisten. Ganz alltäglich sind etwa die Tricks mit den so genannten Preisschwellen. Butter für 99 Cent halten wir für deutlich billiger als Butter für einen Euro. Deshalb enden im Lebensmittelhandel 70 Prozent der Preise auf 9. Wenn Butter die Ein-Euro-Schwelle aber mal überschritten hat, macht es uns nicht mehr viel aus, ob sie nun 1,29 Euro oder 1,09 Euro kostet. Vor allem Supermärkte arbeiten auch mit so genannten Eckartikeln. Wenn Milch, Butter, Schokolade, Hackfleisch und ein paar andere Produkte, deren Preis wir kennen, günstig sind, halten wir automatisch den ganzen Supermarkt für günstig - auch wenn die anderen Produkte übermäßig teuer sind. Sehr beliebt sind auch Platzierungstricks: Stehen zwei Sorten annähernd gleich teuren Weins nebeneinander, kaufen die meisten den günstigeren. Stellt man aber noch eine dritte, teurere Flasche daneben, greifen die meisten zur mittleren Preislage.
Wer einen Tintenstrahldrucker besitzt, kennt vermutlich auch den "Einstiegseffekt". Das heißt, dass ein günstiger Preis die Kunden erst mal dazu bringen soll, das Gerät zu kaufen - verdient wird dann richtig mit den sündhaft teuren Druckerpatronen. Das Gleiche gilt für Nassrasierer: Erstkauf günstig, Klingen teuer. Ein weiterer Trick sind Ankerpreise. Da wir gern vergleichen, schielen wir auf die durchgestrichene hohe alte Zahl oder die "unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers" - dabei handelt es sich oft um Mondsummen, die sowieso niemand bezahlt hätte. Immer noch gut funktioniert auch die einfache Färbung des Preisschildes in Rot. Da Rot oft ein Sonderangebot markiert, kann man auch Nichtreduziertes rot anstreichen und es dazu mit Begriffen wie "Preisschlager" oder "Traumpreis" ausstatten - schon melden die Gehirnzellen bei vielen: "Schnäppchen!"
Wer aber diese Tricks durchschaut, kauft gar nicht oder wendet sich ab und geht gleich zum Discounter. Bei Aldi und Lidl sind die Läden voll, Umsatz und Gewinn wachsen. Auch Heinrich Deichmann, Chef der gleichnamigen Schuhkette, die sich schon vor Jahrzehnten auf billig spezialisiert hat, sagt: "Die Leute sind sehr preissensibel geworden." Die Zahl der verkauften Schuhe sei bei ihm im vergangenen Jahr zwar um fünf Prozent gestiegen, der Umsatz aber nicht. Den Grund dafür kennt Deichmann auch: "Die Nachfrage gerade in den unteren Preisgruppen hat stark zugenommen." Zudem habe es eine Polarisierung gegeben. "Im oberen und im unteren Preissegment kann man am besten überleben." Wer in der Mitte liegt, hat demnach ein Problem. Der Volksmund sagt zwar: "Alles hat seinen Preis", doch selten hat er so Unrecht wie hier. Denn den Preis gibt es nicht mehr: Ob etwas teuer oder billig ist, angemessen oder Wucher, entscheidet immer die Situation. Eine kühle Cola am Strand im Urlaub ist uns schon mal 2,50 Euro wert - in der Firmenkantine würden wir das nie im Leben bezahlen.
Preise gibt es, seit Menschen wirtschaftlich aktiv sind: Ein frisch erlegter Hase gegen einige selbst gesammelte Pilze - so könnte der erste Tauschhandel der Urmenschen ausgesehen haben. Automatisch entstand dabei ein Preis, der Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung brachte: Gab es viele Hasen, mussten nur ein paar Pilze dafür "bezahlt" werden. Instinktiv wurden Werte ermittelt und gegeneinander aufgewogen. Nur wenn beide Seiten mit dem Preis zufrieden waren, kam der Tausch zustande. Später, nach Einführung von Geld als Tauschmittel, entwickelte sich Handel. Auf Marktplätzen trafen sich Anbieter und Nachfrager. Ein Preisniveau bildete sich, denn beide Seiten konnten vergleichen. Kein Händler durfte Unangemessenes verlangen, wenn er etwas absetzen wollte. Aber auch kein Kunde konnte den Preis unendlich drücken.
Heute sind diese Marktplätze längst ersetzt worden durch Einkaufszentren, Versandhauskataloge oder Internetshops. Doch auch sie erfüllen noch den gleichen Zweck: Angebot und Nachfrage zusammenzubringen und einen Preis für die Produkte zu finden. Was sich verändert hat: Nie waren die Informationen über den Preis so frei verfügbar wie heute. Im Internet stehen kostenlose Suchmaschinen bereit, die in Sekunden die günstigsten Angebote für zigtausend Produkte liefern. Deutschland - und weltweit.
Handel und Industrie mussten sich noch nie so viele Gedanken darüber machen, wie man das Maximale aus den Kunden herausquetscht. "Die Preispolitik ist eine der schärfsten Marketingwaffen", schreibt der Betriebswirtschaftsprofessor Hermann Diller in seinem Standardwerk "Preispolitik". Der Euro bot eine willkommene Gelegenheit, das ganze Arsenal dieser Waffen einzusetzen. Schließlich war die Währungsumstellung zu einem Kurs von 1,95583 Mark für einen Euro trotz Pflicht zur doppelten Preisauszeichnung alles andere als übersichtlich. Und wenn die Übersicht für den Verbraucher verloren geht, verliert er auch sein Preiswissen. Einige Händler und besonders die Anbieter von Dienstleistungen sahen die Informationslücke der Kunden und nutzten sie für Aufschläge. Doch die Verbraucher sind eben auch nicht blöd. Sie fühlten sich getäuscht und verweigerten den Konsum. Das Vertrauen war dahin, ganz gleich, ob der Anbieter abgezockt, korrekt umgerechnet oder sogar die Preise gesenkt hatte. Davon haben sich Handel und Dienstleister noch immer nicht erholt. Der Euro gilt seitdem als Teuro.
Unsere Erfahrungen in den vergangenen beiden Jahren drängen aber einen viel grundlegenderen Prozess in den Hintergrund. Denn lehnt man sich mal ein wenig zurück und betrachtet die Preise über eine längere Zeit, bemerkt man, dass alles im Verhältnis billiger wird. Das liegt daran, dass die Löhne seit 1960 deutlich stärker stiegen als die Inflationsrate, aber auch daran, dass viele Produkte immer billiger hergestellt werden können. Verdiente 1960 ein Arbeiter im produzierenden Gewerbe durchschnittlich 1,36 Euro brutto pro Stunde, waren es 1980 im Schnitt 6,81 Euro und im Jahr 2000 sogar 14,64 Euro - mehr als das Zehnfache. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Steuern und Sozialabgaben gestiegen sind und die Arbeitszeit sank, stehen den Deutschen heute mehr Euro zum Konsum zur Verfügung als 1960 oder 1980. So gesehen ist in diesem Zeitraum der Wohlstand gestiegen - doch mit ihm auch die Konsumwünsche.
Rechnen wir einmal aus, wie viele Arbeitsstunden notwendig waren, um zum Beispiel ein Herren-Oberhemd kaufen zu können: 1960 musste ein Arbeiter dafür 5 Stunden und 5 Minuten arbeiten, 1980 waren es nur noch 2 Stunden und 15 Minuten und heute 1 Stunde und 55 Minuten. Für ein Kilogramm Roggenbrot musste man 1960 noch 17 Minuten arbeiten, 1980 elf Minuten und heute fünf Minuten. Das beliebteste Auto des Jahres 1960 war der VW Käfer, Listenpreis umgerechnet 1.928 Euro. Dafür musste ein Arbeiter 1.417 Stunden schuften. Heute ist ein Golf der Volks-Wagen, Listenpreis 15.220 Euro, 976 Stunden Maloche für den Arbeiter. Somit ist der Golf heute 31 Prozent billiger als der Käfer.
Auf Überraschendes stösst man aber, wenn man sich die Autopreise genauer anschaut und nicht ganz so weit zurückgeht: 1980 musste ein Arbeiter noch 822 Stunden arbeiten, um sich einen Golf leisten zu können, im Jahr 2000 waren es aber bereits 939 Stunden, und heute fordert der Golf sogar 976 Stunden Maloche - eine reale Verteuerung um mehr als 18 Prozent. Gleichzeitig haben sich die Produkte enorm weiterentwickelt, was besonders deutlich wird beim Sprung vom Käfer zum neuesten Golf, der Abgasreinigung, Airbags, Klimaanlage, ABS und verzinkte Karosserie serienmäßig vorweist. Er ist größer, schneller, sicherer und verbraucht weniger. Ein Auto mit 60er-Jahre-Ausstattung wäre heute unverkäuflich.
Und noch etwas hat sich grundlegend geändert: Für ein und dasselbe Produkt gibt es nicht mehr den einen Preis, sondern im Extremfall Millionen verschiedener. Zum Beispiel bei den Flugtickets bei der Lufthansa. Für ein eigentlich identisches Produkt, den Flug von A nach B, gelingt es der Fluggesellschaft, völlig unterschiedliche Preise zu erzielen. In der Regel sitzt kaum jemand im Flieger, der das Gleiche bezahlt hat wie sein Sitznachbar. "Die Lufthansa hat bei 45 Millionen Passagieren pro Jahr 1,7 Millionen verschiedene Preise", sagt Ralf Teckentrup, bis Ende 2003 Bereichsvorstand bei der Lufthansa. Unterschieden wird, wer wie und wo in welcher Klasse ein Ticket kauft, zu welcher Zeit der Flug sein soll, wie lange im Voraus gebucht wird und ob der Flug umbuchbar sein soll. Außerdem spielt die Auslastung des Fluges eine Rolle.
Gewiefte Verbraucher profitieren von dem System und können extrem viel billiger fliegen als früher. Andere verlieren den Durchblick und sehnen sich zurück in die Welt von gestern - mit der guten alten Mark und Festpreisen ganzjährig. Ausnahme SSV und WSV. Man hatte die wichtigsten Daten im Kopf, musste keine Währung umrechnen, und es gab auch keine Dauerbombardements von Schnäppchenanzeigen, die ständig zum Mitdenken zwingen. Heute braucht man zum Einkaufen beinahe ein Studium - oder wissen Sie genau, welches gerade der günstigste Tarif für Ihr Handy ist? Es scheint, als habe sich der Wettbewerb bis auf die Verbraucher übertragen. Die Cleveren unter ihnen, die Preise vergleichen, sich im Internet informieren, Sonderangebote beobachten, nach Rabatten fragen und schließlich feilschen, nehmen eine Mühe auf sich, die sich am Ende auszahlt. Einkaufen ist also richtig anstrengend geworden. Das ist nicht lustig, nicht schön und nicht anrührend. Wahrscheinlich bekommt der Euro deshalb auch keinen Oscar.
Mitarbeit: Stefan Biestmann, Claas Pieper, Sven Rohde, Frank Schulte
Fotos: Stefan Boeckels (72); Enrico Klinkebiel (3); Stockfood (20); Florian Schwinge; Dedert/DPA; Gray/Reuters/E-lance Media; Cacace/Getty Images; Führer/DPA; Teutopress; Mittenzwei/Ullstein; Lange/ Agentur Focus