Arbeitswelt Die neuen Arbeiter

Das Land hat sich verändert - in so kurzer Zeit. Was vor wenigen Jahren noch als Zumutung galt, ist heute für Millionen Beschäftigte normal: Der Karriere-Banker arbeitet als Teilzeitkraft, der Manager wird zum Waldorflehrer, die Arbeitslose zur Multi-Jobberin.

"Es ist eine ganz verrückte Welt, in die wir da hineingeraten. Aber das ist der Übergang, und der tut weh, so lange er dauert."
Ralf Dahrendorf, deutsch-britischer Soziologe

Gehen Sie einmal in Gedanken Ihren Bekanntenkreis durch: Ihre Freunde, Nachbarn, Kollegen und Verwandten, die Männer und Frauen, mit denen Sie auf der Schule waren oder studiert haben, die Kumpel vom Fußballverein, die Freundinnen aus dem Yoga-Kurs. Mit Sicherheit ist jemand dabei, der das hat, was Berufsforscher ein "prekäres Arbeitsverhältnis" nennen. Prekär kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie "misslich, schwierig, widerruflich".

Prekär? Der Physiker Siegfried Garbe hatte das beste Arbeitsverhältnis der Welt: Im Jahr 2001 schickte seine Firma, die Heidelberger Druckmaschinen AG, ihn in die USA, wo der heute 49-Jährige ein Spezialkopiergerät entwickeln sollte. Garbe zog mit Frau und Kindern nach Amerika, verdiente 85.000 Dollar im Jahr, plus Erfolgsbeteiligung, plus ein Haus, plus einen Dienstwagen plus Umzug für 10.000 Dollar.

Nach nur einem Jahr wurde Siegfried Garbe nach Deutschland zurückbeordert. Die Aufträge für Druckmaschinen waren weltweit eingebrochen, das Projekt in den USA machte hohe Verluste, der Konzern kündigte an, 2.200 Arbeitsplätze abzubauen. Garbe fühlte sich trotzdem sicher: Er war verheiratet, hatte drei Kinder und 14 Jahre Betriebszugehörigkeit. So jemanden schmeißt man in Deutschland nicht so schnell raus.

"Du gehörst jetzt nicht mehr dazu"

Einen Tag vor Weihnachten fand Garbe das Kündigungsschreiben im Briefkasten. "Schon da ahnte ich, dass mein Berufsleben als Physiker jetzt zu Ende ist", sagt Garbe. Obwohl er sich für einen flexiblen Menschen hält, spürte er, dass es verdammt schwierig würde, etwas Neues zu finden. "Ich sah in der Fußgängerzone all die Leute im Anzug und hatte plötzlich das Gefühl: Du gehörst jetzt nicht mehr dazu."

Deutschland im Herbst 2003. Die Konjunktur zieht an. Die Arbeitslosenquote auch! Experten halten sogar die Horrorzahl von fünf Millionen für möglich. Alle können sehen, spüren, fühlen, dass das, was Wissenschaftler wie der Soziologe Ulrich Beck für eine ferne Zukunft vorhergesagt haben, raue Wirklichkeit geworden ist: "Den westlichen Arbeitsgesellschaften geht die attraktive, hoch qualifizierte und gut bezahlte Vollerwerbstätigkeit aus." Unwiederbringlich. Selbst wenn ein neuer Wirtschaftsboom käme, würden nicht massenhaft Leute fest eingestellt werden.

Ralph Wiechers, Chefvolkswirt beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, einer Branche, die in den letzten zehn Jahren ein Viertel aller Beschäftigten "abgebaut" hat, erklärt das Kalkül so: "Viele Unternehmer sagen sich: Ich habe eine schlagkräftige Kernmannschaft, mit der gehe ich durch dick und dünn. Wenn die Auftragsbücher sich füllen und mehr zu tun ist, fange ich das durch Leiharbeit, Arbeitszeitkonten und Outsourcing auf." Sich bloß nicht binden! Denn keiner weiß, wie lange ein Boom heute dauern wird, die Konjunkturzyklen sind in den letzten Jahren immer kürzer geworden, da müssen die Personalkosten so flexibel wie möglich bleiben.

Akt der Solidarität

Hält dieser Trend an, wird in zehn Jahren nur noch jeder zweite Beschäftigte einen Vollzeitarbeitsplatz haben. Der Rest, immerhin rund 19 Millionen Erwerbstätige, arbeitet in "prekären Arbeitsverhältnissen" - als Mini-, Teilzeit- oder Multijobber, mit befristeten Verträgen, als Ich-AGler, Dauer-Praktikant oder Zeitarbeiter. "Brasilianisch" eben, wie der Soziologe Beck diese Verhältnisse gemeinerweise nennt. In seinen Augen entwickelt sich die Erwerbsarbeit in der ersten Welt und der so genannten dritten Welt ganz ähnlich: "Im Zentrum des Westens breitet sich ein sozialer Flickenteppich aus: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits- und Lebensformen des Südens."

Und dabei haben die Deutschen ihn so geliebt, ihren wunderbaren Vollzeitarbeitsplatz: mit seinem tarifvertraglich verbrieften Weihnachts- und Urlaubsgeld, den geregelten Arbeitszeiten, der täglichen Routine, der planbaren Karriere. Er hat uns nicht nur gutes Geld, sondern vor allem jede Menge Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität gebracht. Aus, vorbei, futsch, nie wieder? Jeder spürt es. Sogar Banker: "Erst im Sommer ist mir bewusst geworden, dass ich jeden Moment arbeitslos werden kann, dass auch Banken nicht mehr sicher sind", sagt Anja Seidel. Seit Juli arbeiten sie und ihre 44 Kollegen aus der Personalabteilung der Hypo-Vereinsbank in München nur noch vier Tage die Woche oder sparen die Zeit an für eine längere Auszeit.

Ein Akt der Solidarität: Sieben Stellen wären gestrichen worden, würde nicht jeder auf einen Tag verzichten. Das Modell ist auf ein Jahr befristet. Die Bankkauffrau Anja Seidel kellnert jetzt an ihrem freien Tag. Das wollte sie immer schon mal machen. Auch ihr Kollege Christian Welsch, 31, erfüllt sich einen Traum und macht seinen Segelschein. Vielleicht sind "brasilianische" Arbeitsverhältnisse" gar nicht so furchtbar?

Mit Ende 30 ganz von vorne anfangen

Trotzdem bleibt Teilzeit für Christian Welsch eine Notlösung. Mit weniger Geld könne er ja leben, aber die viele Freizeit: "Ich bin jung, ich will arbeiten." Von Freunden kamen anfangs hämische Sprüche wie "Du bist ja jetzt Teilzeit-Arbeitsloser". Gerade in der konservativen Bankenbranche lassen sich selbst in Krisenzeiten Teilzeitmodelle nur schwer durchsetzen, zur Karriere gehört dort die ständige Präsenz.

Ein Volk übt mühsam die neuen Regeln ein, nach denen auf dem Arbeitsmarkt gespielt wird. Doch der Übergang tut weh, "vor allem den Männern, die sich nicht daran gewöhnen können, dass der rigide Karrieregedanke eines Jobs auf Lebenszeit nicht mehr zukunftsträchtig ist", schreibt der Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf.

Der Physiker Siegfried Garbe hat sich bemerkenswert schnell an diesen Gedanken gewöhnt. Die Kündigung bei der Heidelberger Druckmaschinen AG war nicht der erste Bruch in seinem Leben: 1988 mussten er und seine Familie aus der damaligen DDR ausreisen. Mit Ende 30, die meisten seiner Generation in Westdeutschland hatten längst ihr Haus gekauft und Karriere gemacht, fing er ganz von vorne an. Eine Erfahrung, die ihn prägte. Garbe sagt, dass er ein Kämpfertyp sei. Als Anfang des Jahres immer nur Absagen von Bosch, Siemens und den anderen Firmen auf seine Bewerbungen kamen, begann er in den Magazinen zu blättern, die seine Frau Kornelia, Lehrerin an einer Waldorfschule im schwäbischen Kirchheim, von der Arbeit mitbrachte. Garbe stieß auf einen Anzeige, in der zwei Waldorfschulen Physik- und Chemielehrer suchten. Da hat er sich für den radikalen Wechsel entschieden und gegen das Jammern, das Selbstmitleid, die unfruchtbare Angst vor dem Statusverlust. Heute macht Siegfried Garbe eine Ausbildung zum Lehrer an einer Waldorfschule, ein Quereinsteiger aus der Praxis, der lernt, wie man Sechstklässler für Naturwissenschaften begeistert. Mit einer vollen Stelle als Lehrer wird er rund 2.000 Euro brutto verdienen - das sind 200 Euro weniger als das Arbeitslosengeld, das er ein Jahr lang bekam. Gut möglich, dass die Familie ihr Haus nicht weiter finanzieren kann.

Dieser Arbeitsmarkt ist für viele eine Zumutung

Wer früher den Beruf wechselte, tat sich diesen Stress in der Regel an, um mehr Geld zu verdienen. Heute sagen 25 Prozent aller Wechsler: "Ich finde keine Stelle in meinem alten Beruf."

Dafür erscheint Siegfried Garbe sein neuer Job als Lehrer viel sinnvoller als weiter Kopiergeräte zu verbessern, damit sie 600 statt 500 Blatt Papier pro Minute ausspucken. "Wenn ein Mensch älter wird, kann es doch nichts Schöneres geben, als sein Wissen jungen Menschen weiterzugeben", sagt Garbe. Früher hätte man ihn einen Absteiger genannt. Heute kriegt er Applaus für seine Flexibilität.

Keine Frage, dieser Arbeitsmarkt ist für viele eine Zumutung: Er verlangt immer mehr, gibt immer weniger und benimmt sich den Arbeitnehmern gegenüber launisch, zickig, unberechenbar. Da muss man schon so anpassungsfähig sein wie Siegfried Garbe, um zu bestehen, so solidarisch wie die Personaler der HypoVereinsbank und so gut organisiert wie Kathrin Lisch.

Deutschland steht auf der Kippe

Die 31-jährige Rostockerin ist eine "Moonlightenerin". Der Begriff kommt aus dem Amerikanischen und steht für Menschen, die die Nacht zum Tage machen, weil sie zwei Jobs haben. Bis zu 140 Stunden im Monat verbringt Kathrin Lisch frittierend und kassierend hinter der Theke eines McDonald's-Restaurants in Rostock-Sievershagen, dazu kommen zwischen vier und acht Einsätze als Ordnerin bei einem privaten Sicherheitsdienst. Schwarz-gelb karierte Bluse und rote Jacke im fliegenden Wechsel. "Ich bin immer in Hektik und Stress." Rund 750.000 Erwerbstätige in Deutschland, das sind zwei Prozent, sichern ihre Existenz auf diese Weise.

"Deutschland steht auf der Kippe", sagt Steffen Lehndorff vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik, "wenn der Sozialstaat weiter demontiert und der Flächentarifvertrag geschleift wird, öffnen sich die Tore für das Moonlightening auch bei uns." Anfällig sind vor allem Beschäftigte der traditionellen Niedriglohn- und Teilzeitbranchen wie Einzelhandel, Gastronomie und Soziales. Da betreut ein Erzieher zusätzlich zum Fulltime-Job in einer Jugendwohngemeinschaft ein Kinder-Notruf-Telefon; ein angestellter Optiker fährt abends und am Wochenende Taxi. Dabei fließt das zusätzlich verdiente Geld immer seltener in einen Zweiturlaub oder ein Reihenhäuschen. "Bei vielen Doppeljobbern ist der Wunsch nach einem finanziellen Polster ausschlaggebend", sagt Nicole Gall, die das Phänomen der zweifach Erwerbstätigen an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft untersucht hat. Manchmal werde mit dem zweiten Job aber auch eine Zusatzausbildung finanziert, um im erlernten Hauptberuf attraktiv und konkurrenzfähig zu bleiben. "Nachhaltige Absicherung" nennt Gall diese Variante.

Soweit ist Kathrin Lisch noch nicht, bei ihr geht es ums Überleben und um die Unabhängigkeit von der Sozialhilfe. Und so jongliert sie jeden Monat aufs Neue mit ihrem Geld und ihrer Zeit. Im Restaurant rotiert sie im Dreischichtbetrieb verteilt auf sieben Tage die Woche, die Ordner-Einsätze liegen meist abends und am Wochenende. "Freunde und Sport bleiben bei so einem Leben auf der Strecke", sagt Kathrin Lisch. "Aber besser ich habe zwei Jobs als keinen."

Die Menschen sind beweglicher geworden – auch im Kopf

Rainer Schmidt, Arbeitsmarktexperte am Kieler Institut für Weltwirtschaft, hat gemischte Gefühle, wenn er Geschichten wie die von Kathrin Lisch hört oder von den vielen Ich-AGlern, die in den letzten Monaten ein Mini-Unternehmen gegründet haben. 65.000 waren es bis September, bis zum Jahresende sollen es 100.000 sein. "Die Leute sind aktiv und nicht nur passive Empfänger", sagt Schmidt. Auf den ersten Blick seien die Zahlen beeindruckend - aus politischer und psychologischer Sicht. "Vielleicht bürgert sich gerade über die Ich-AG das amerikanische Prinzip bei uns ein: Dass man mit Schwung an eine Idee herangeht, aber auch nach mehrmaligem Scheitern eine dritte oder vierte Chance bekommt." Andererseits glaubt Schmidt, dass nur 10 bis 20 Prozent der Ich-AGs überleben.

Deutschland im Herbst 2003. Die Menschen sind beweglicher geworden. Auch im Kopf. "Früher war Arbeitslosigkeit eine Schande, heute kenne ich kaum jemanden, den es nicht erwischt hat", sagt Arndt Roßnagel. Der 29-Jährige arbeitet als Texter in einer Werbeagentur und ist mit seiner Branche Achterbahn gefahren: sehr viel Arbeit, keine Arbeit, Kündigung, neuer Job, neue Krise, Kurzarbeit - und heute wieder Überstunden. Anfangs, als die Zeiten so unsicher wurden, hat Arndt Roßnagel sein Geld zusammengehalten und Anschaffungen auf später verschoben. Vor ein paar Monaten gönnte er sich aber doch wieder einen Urlaub. "Ich nehme mit, was geht."

Verglichen mit diesem Pragmatismus wirkt die politische Debatte merkwürdig lahm. An diesem Freitag sollen die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes im Berliner Reichstag verabschiedet werden. Sie werden den Druck auf uns alle erhöhen, "prekäre Arbeitsverhältnisse" anzunehmen, weil es weniger Geld vom Staat gibt: Wer arbeitslos ist, landet nach nur einem Jahr auf Sozialhilfeniveau; die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose, welche Jobs sie annehmen müssen, werden verschärft. Innerhalb der Regierungsparteien, aber auch in der Union wird heftig gestritten: Wie gerecht sind diese Reformen? Sind sie überhaupt zumutbar? Aber die Kritik wirkt unbeholfen, weil sie keine Alternative aufzeigt und so tut, als müsse man sich vom Prinzip "Vollerwerbstätigkeit" nur ein kleines bisschen verabschieden.

Wie wär's, wenn einer hingehen würde und sagte, okay, liebe Leute, alle Rezepte helfen nichts mehr, es bleibt uns nur, die Krise anzuerkennen und zur Grundlage einer neuen Normalität zu machen. Eine Normalität, in der ehemalige Manager eben Lehrer werden, Menschen zwei schlecht bezahlte Jobs haben und superseriöse Banker wie Anja Seidel nebenher kellnern. Und wer weiß schon, wie die prekären Arbeitsverhältnisse uns noch verändern werden - einer von Anja Seidels Kollegen paukt jedenfalls an seinem freien Tag Erdkunde und Geschichte: Er ist zu Günther Jauchs "Wer wird Millionär" eingeladen.

Doris Schneyink

Mitarbeit: Markus Grill, Kathrin Haasis, Beate Herkendell, Mathias Rittgerott, Nikola Sellmair, Brigitte Zander.

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