Die Entscheidung ist kompliziert, aber von großer Tragweite: Das Oberste Gericht im indischen Chennai hat eine Klage des Pharmakonzerns Novartis zurückgewiesen. Es geht um die Frage, ob Pharmaunternehmen für neue Medikamente, die nicht spürbar besser sind, den vollen Patentschutz beanspruchen können oder nicht. Würden sie keinen Patentschutz mehr erhalten, dürften Billigkonkurrenten die Medikamente einfach nachbauen - und den Pharmakonzernen ginge ein Teil ihres einträglichen Geschäfts flöten.
Im Jahr 2005 hatte Indien ein solches Gesetz beschlossen. Danach erhalten - im Gegensatz zu Deutschland - die Pharmamultis nur noch dann ein Patent, wenn ihre Neuheiten besser sind als bisherige Präparate.
Markus Grill
ist stern-Redakteur im Ressort Politik und Wirtschaft. Ende August erscheint sein Buch "Kranke Geschäfte. Wie die Pharmaindustrie uns manipuliert" (Rowohlt-Verlag, 16,90 Euro).
Novartis mit Klage gescheitert
Unabhängige Mediziner werten das als großen Fortschritt, weil es die bei Pharmafirmen beliebten Scheininnovationen weniger lukrativ macht. Novartis klagte aber gegen das Gesetz - und scheiterte. Am Montag erklärten die Richter in Chennai: Wenn Novartis das Gesetz nicht passe, müsse es eben vor der Welthandelsorganisation WTO dagegen klagen.
Kaum war die Gerichtsentscheidung bekannt geworden, ließ Novartis ihren Forschungschef Paul Herrling sattsam bekannte Drohungen verkünden: "Wenn das indische Patentgesetz diese Innovationen nicht schützt, werden den Patienten neue und bessere Medikamente vorenthalten." Das heißt: Wenn ihr nicht alles bezahlt, was wir wollen, gibt's keine neuen Medikamente mehr.
Dabei sieht das indische Gesetz ja ausdrücklich vor, dass für verbesserte Präparate der Patentschutz gelten soll. Nur das Kriterium "neu" soll nicht mehr ausreichen, ein Patent zu bekommen.
Patienten kann es herzlich egal sein, ob ein Medikament neu ist oder nicht. Sie wollen, dass es wirkt und keine Risiken birgt. Und wenn die Pharmaunternehmen für ein neues Präparat mehr Geld haben wollen als für ein bewährtes, sollen sie nachweisen, dass es besser ist als das alte.
Patente auf Scheininnovationen
In Deutschland müssen sie das bisher nicht, in Europa nicht und in den USA auch nicht. Dort müssen Medikamente nur beweisen, dass sie wirken. Sie müssen also besser als eine Placebopille sein. Sobald die Firmen aber den Patentschutz für ein Präparat erhalten haben, können sie, zumindest in Deutschland, jeden Preis verlangen, den sie wollen - und die Krankenkassen müssen zahlen.
Die Folge: Seit 1978 Jahren haben im Schnitt nur noch weniger als ein Drittel aller neuen Präparate "therapeutisch bedeutsame neue Wirkprinzipien", wie der Heidelberger Pharmakologe Ulrich Schwabe bilanziert. Und die Arzneimittelkosten steigen dennoch stärker als jeder andere Bereich im Gesundheitswesen.
Afrika braucht Aids-Generika
Für Patienten in Afrika ist die Entscheidung des indischen Gerichts sogar lebenswichtig: Sie sind darauf angewiesen, dass beispielsweise Aids-Medikamente als billige Generika nachgebaut werden dürfen und nicht durch Patent-Tricks weiter teuer bleiben. Und indische Generika-Firmen sind die Hauptlieferanten von Medikamenten in arme Länder.
Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen" feiern die Entscheidung gegen Novartis deshalb auch euphorisch. Mehr als 420.000 Menschen weltweit hatten eine Petition gegen die Klage des Pharmamultis unterschrieben. Zu den Unterzeichnern gehörte übrigens auch die deutsche Entwicklungshilfe-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Besser wäre es gewesen, Ulla Schmidt hätte unterschrieben. Aber auf eine Gesundheitsministerin, die sich mit der Pharmaindustrie ernsthaft anlegt, wird man noch lange warten.