Die Mutter zeigt auf die veganen Bällchen im Regal und richtet sich an ihre Tochter: "Die hattest du doch beim letzten Mal, oder?" Sie sagt es auf Schweizerdeutsch und mit der Freude von jemandem in der Stimme, der gerade einen flüchtigen, aber sympathischen Bekannten wiedersieht. Auch der Vater meint sich zu erinnern: "Die von Coop magst du aber lieber, richtig?" Auch er spricht Schweizerdeutsch und in seinem "richtig" klingt ein bisschen Stolz, aber auch die Sorge mit, ob die Tochter am Ende das Produkt im Regal bei Aldi in Deutschland besser findet als das bei Coop in der Schweiz. Doch die Tochter nickt. Vater und Mutter lächeln zufrieden.
Als bräuchten sie eine Rechtfertigung und Bestätigung dafür, dass sie ihre Franken jetzt zwar in Konstanz in Euro ausgeben, es in der Schweiz aber eigentlich schon besser ist und sie das auch wissen. Der Einkaufstourismus ist ein aufgeladenes Thema – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.
Insbesondere am Wochenende kommen in der Grenzregion an Bodensee und Rhein viele Menschen aus der Schweiz zum Einkaufen nach Deutschland. Das hat Folgen. Auf beiden Seiten. Bei der Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee heißt es, Südbaden sei über Jahrzehnte zum Nahversorger der Nordschweiz geworden. Verkaufsflächen, Sortimentstiefe und Markenvielfalt in den grenznahen Orten seien darauf ausgerichtet. Ganze Existenzen und Ausbildungsplätze hängen daran. Viele Verkaufsflächen auf deutscher Seite seien überhaupt nur wegen der Schweizer Nachfrage entstanden. Die ist hoch, weil es in Deutschland im Vergleich billig ist.
Weniger grüne Zettel im vergangenen Jahr
Wer in der Schweiz wohnt und in Deutschland einkauft, erhält zusätzlich die Differenz bei der Mehrwertsteuer erstattet. Da kommt aufs Jahr gerechnet einiges zusammen. Jüngst hat der Zoll die Zahlen für 2021 vorgestellt. Im Hauptzollamtsbezirk Singen, zu dessen Einzugsgebiet auch die bei (Einkaufs-)Touristen beliebte Bodensee-Stadt Konstanz gehört, wurden im Jahr 2021 rund drei Millionen Ausfuhrkassenzettel abgefertigt. Die berüchtigten grünen Zettel – eine App dafür ist schon lange geplant, aber noch nicht da – gibt's an der Kasse in deutschen Läden für Menschen, die in der Schweiz wohnen. Die können ihre Ausfuhrscheine beim Zoll abstempeln lassen und sich die Differenz auszahlen lassen. Auf den meisten Produkten liegt in der Schweiz eine Mehrwertsteuer von 7,7 Prozent.

Allerdings ist die Tendenz rückläufig. 2021 wurden im Hauptzollamtsbezirk Singen rund 1,28 Millionen Zettel weniger abgestempelt als im Jahr zuvor. Auch der Lörracher Zoll verzeichnet einen starken Rückgang. Als Grund nennen die Ämter zum einen die Bagatellgrenze: Seit Anfang 2020 wird die Mehrwertsteuer erst bei Einkäufen ab 50 Euro rückerstattet. Und dann war da natürlich noch die Pandemie. Plötzlich war die Grenze dicht.
Plötzlich war da ein Zaun
Die Menschen und der Alltag in der Grenzregion sind eng verbunden. Der erste Lockdown war ein schwerer, insbesondere für die jüngere Generation bislang unvorstellbarer Einschnitt. Berufspendler konnten noch über die Grenze, Privatpersonen mussten auf ihrer Seite bleiben. Ganze Familien wurden so über Wochen getrennt. Wo sonst grüne Wiese und grüne Grenze ist, stand plötzlich ein Zaun, der die Länder trennte.

Menschen in der Schweiz hatten gar keine andere Möglichkeit, als wieder im eigenen Land einzukaufen. Für die Läden auf deutscher Seite ein großer Einbruch: "Für die Einzelhändler, die noch geöffnet sein konnten, fehlte von heute auf morgen fast die Hälfte der Kundschaft", sagt Heike Wagner von der IHK Bodensee-Hochrhein.
Fotos aus diesem begrenzten Frühjahr 2020 wirken wie aus einer anderen, surrealen Zeit. Heute erinnert lediglich die ein oder andere Maske im Laden noch daran, dass es Corona gibt – und der Blumenschmuck in der Konstanzer Altstadt. Die bunten Bälle mit Blüten in Noppenform lassen unweigerlich an die computersimulierten Modelle des Coronavirus denken.

Im Parkhaus fast ausschließlich Kennzeichen aus der Schweiz
An diesem Freitag Ende April ist es frühsommerlich in der malerischen Studentenstadt am Bodensee. Es ist einiges los, aber die Gassen sind nicht überfüllt. Vor dem Emmishofer Zoll auf Konstanzer Seite hat sich eine kleine Schlange von sechs Fußgängern gebildet, eine Frau hält den grünen Zettel schon in der Hand. Unweit von diesem Grenzübergang liegt das "Lago", die Konstanzer Shopping Mall. Ein überdimensionierter weißer Dekohase steht im Eingangsbereich als österliches Überbleibsel.
Ein Stockwerk tiefer im Parkhaus sind fast ausschließlich Schweizer Kennzeichen zu sehen. Die Autos kommen nicht nur aus dem benachbarten Thurgau, sondern auch von weiter her aus den Kantonen Bern, Schwyz, Zürich und Zug. Oft bilden sich gerade am Wochenende Staus in der Konstanzer Innenstadt und nahe der Grenze. Ins schweizerische St.Gallen gibt es inzwischen einen schnellen Zug, der stündlich fährt, manche nennen ihn den "Shoppingexpress".
Auch wenn in der Konstanzer Altstadt wieder viel Schweizerdeutsch zu hören ist, haben die vergangenen zwei Jahre Spuren hinterlassen. "Deutliche", wie es bei der IHK Hochrhein-Bodensee heißt. Wiederkehrende Lockdowns, Teilschließungen und die hohe Regelungsdichte hätten dem Handel schwer zu schaffen gemacht. Eine vollständige Erholung sei zu keiner Zeit in den vergangenen zwei Jahren möglich gewesen. "Gerade der Einzelhandel in den Innenstädten berichtet uns, dass immer noch gut ein Drittel der Kundschaft fehlt", sagt Heike Wagner noch Ende April.
"Der Einkauf im Ausland erfreut sich bei Herrn und Frau Schweizer wieder grosser Beliebtheit"
Auf Schweizer Seite heißt es bei der Industrie- und Handelskammer Thurgau, dass bis zu einem gewissen Grad eine Rückbesinnung auf lokale und regionale Anbieter und Geschäfte stattgefunden habe. "Insofern hatte die Krise bei allen schwerwiegenden Nachteilen auch einige positive Entwicklungen für den Schweizer Detailhandel", sagt Direktor Jérôme Müggler. Während der deutsche Handel über die Jahre stark vom Einkaufstourismus profitierte, stellt er für die Schweizer Händler und Gemeinden ein Problem dar. Eine Folge ist das "Lädelisterben" in den Schweizer Städten und Dörfern. Ein weiterer Grund dafür ist der Onlinehandel, der in der Pandemie nochmals an Bedeutung gewonnen hat – auch in Deutschland.
Was die Zukunft bringt, werde sich weisen, so der IHK-Direktor aus dem Thurgau mit Blick auf den Einkaufstourismus. Ein Trend zeichnet sich bereits ab, jetzt, da alle Corona-Restriktionen weggefallen sind: "Der Einkauf im Ausland erfreut sich bei Herrn und Frau Schweizer wieder grosser Beliebtheit", sagt Jan Riss von der IHK St.Gallen-Appenzell, einer weiteren grenznahen Region, Mitte Mai. Das Einkaufen "ennet der Grenze", also auf der anderen, deutschen Seite, sei nach Aufhebung der Corona-Maßnahmen wieder wesentlich einfacher. Und der Franken werte gegenüber dem Euro derzeit auf, wodurch die Produkte im Ausland relativ gesehen günstiger werden. Die Debitkarten-Transaktionen und Bargeldbezüge von Schweizern in Deutschland und Österreich – ein stets aktueller Indikator für den Einkaufstourismus – haben wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Auch beim Zoll beobachten sie inzwischen, dass sich die Zurückhaltung der Schweizerinnen und Schweizer auflöst. Die meisten würden ihre Einkäufe nun konzentrieren und für größere Beträge einkaufen.
Die Inflation in Deutschland tut dem keinen Abbruch. Die Preise steigen hierzulande zwar, bleiben durch den teuren Franken aber vergleichsweise günstig.
Wo früher ein Kino war, wird heute Duschgel verkauft
Menschen, die seit Langem in Konstanz wohnen, sagen, dass sie keinen Unterschied mehr wahrnehmen zwischen der Zeit vor Corona und jetzt. Wer nicht unbedingt am Samstag in der Innenstadt einkaufen muss, der weicht auf einen anderen Tag aus. Hygieneartikel gelten in Deutschland als deutlich günstiger, nicht ohne Grund finden sich in den Einkaufswagen der Schweizerinnen und Schweizer oft flaschenweise Shampoo und Duschgel. Das hat auch Auswirkungen aufs Stadtbild. An der Marktstätte, einem zentralen Platz in der Konstanzer Altstadt, und in ihrer Verlängerung befinden sich inzwischen gleich drei Drogeriemärkte. Eine Müller- und zwei dm-Filialen. Der zweite dm, der größere, war früher ein Kino. Das Scala zeigte auch Filme abseits der Hollywood-Blockbuster und stand der Studentenstadt am Bodensee sehr gut. Ein Dokumentarfilm über die Schließung des Kinos trägt den anschaulichen Namen "Von Windeln verweht".
Drei Länder, ein See und die Berge im Blick – was den Bodensee so besonders macht

Es kaufen bereits wieder vermehrt Menschen aus der Schweiz ihre Windeln und veganen Bällchen in Deutschland. Aktuell liegen bei Einkaufstouristen E-Bikes im Trend. Der Einkaufstourismus zeigt sich vor allem dann von seiner touristischen Seite, wenn sich ein Shopping-Tag bei schönem Wetter mit einem Eis am See verbinden lässt. An der Marktstätte hüpfen bereits Ende April die Spatzen aufgeregt über den Boden und picken erste Waffelkrümel auf. Der Sommer kann kommen.