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"Mach bitte die Kamera an" Video-Konferenzen sollten die Pandemie erträglich machen, doch sie nerven nur noch

Ob der britische Premier-Minister Boris Johnson ein großer Fan von Videokonferenzen ist?
Ob der britische Premier-Minister Boris Johnson ein großer Fan von Videokonferenzen ist?
© Picture Alliance
Videokonferenzen wurden in der Pandemie zum Arbeitsalltag von Millionen Menschen. Sie sind praktisch, vor allem aber: unglaublich anstrengend. Dafür sind vier Faktoren verantwortlich, wie ein Wissenschaftler herausgefunden hat.

"Macht ihr bitte die Kamera an?" Zu kaum einem Satz in dieser Pandemie habe ich solch gemischte Gefühle wie zu diesem. Seit die Corona-Pandemie vor einem Jahr Deutschland erreichte, gehören Zoom, Skype, Teams und Hangouts zu meinem Arbeitsalltag. Diese Tools sind praktisch, keine Frage. Sie ermöglichen es, dass sich auch große Gruppen unkompliziert zusammenschalten, miteinander austauschen und Dokumente teilen können. Nur: Warum muss dabei eigentlich ständig eine Kamera laufen?

Klar ist es nett, ab und zu die Gesichter derjenigen zu sehen, mit denen man sonst immer gemeinsam die Mittagspause verbrachte. Und vor allem neuen Kolleginnen und Kollegen, die während der Pandemie eine neue Stelle angetreten haben, hilft es ungemein, das sprichwörtliche Gesicht zur Stimme zu sehen. Aus diesem Grund führten wir bei uns eine "Wenn möglich bitte Kamera an"-Regel ein.

Videokonferenzen saugen einen aus

Das führte zu interessanten Beobachtungen, nicht nur was die Wahl der Bildschirmhintergründe der Gesprächspartner betrifft. Zum einen setzte sich eine unausgesprochene Etikette durch: Wenn fünf Personen in einem Termin die Kamera anhaben, schaltet meist auch die sechste das Bild dazu. Gruppenzwang funktioniert also auch im Virtuellen. Vor allem aber bemerkte ich an mir selbst, wie kräftezehrend stundenlange Videokonferenzen sind. Nach mehrstündigen "Kamera an"-Terminen fühlte ich mich jedesmal so platt wie sonst nach einem gesamten Arbeitstag.

Lange wusste ich nicht, woran das liegt. Schließlich verbrachte ich den ganzen Tag bequem zu Hause und musste nicht mal gehetzt zwischen den Konferenzräumen hin- und herlaufen, sondern konnte am Schreibtisch sitzen bleiben. Nun hat der Kommunikationsexperte Jeremy Bailenson von der renommierten Stanford University sich ausführlich mit dem modernen Phänomen der "Zoom-Müdigkeit" (Zoom Fatigue) beschäftigt. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in der Zeitschrift "Technology, Mind, and Behavior".

Bailenson hat mehr als zwei Jahrzehnte damit verbracht, die Auswirkungen virtueller Kommunikation auf den Menschen zu untersuchen. Seiner Meinung nach geht die einzigartige Ermüdung, welche das Starren auf eine Reihe von Gesichtern auf dem Bildschirm mit sich bringt, auf eine Art nonverbale Reizüberflutung zurück. Dies sei normal, wenn man virtuelle Plattformen durch persönliche Interaktionen ersetze.

In seiner Untersuchung stellt Bailenson zunächst klar, dass das Phänomen bei jedem Videotelefonie-Dienst zu beobachten sei, die Software Zoom lediglich als derzeit populärstes Beispiel namensgebend fungiere. Dann legt er dar, dass es vier Schlüsselfaktoren gibt, die Videokonferenzen so einzigartig ermüdend machen.

1. Jeder starrt einen an - und zwar die gesamte Zeit

Anders als bei einem persönlichen Meeting, bei dem die Teilnehmer mal den Sprecher anblicken, mal auf den Notizblock schauen, starrt in Videokonferenzen jeder immer jeden an. Der dabei ausgelöste Stress sei mit dem einer öffentlichen Rede vergleichbar. Wer schonmal vor einer Menschenmenge auf die Bühne musste, weiß, wie sich das anfühlt. Bailenson erklärt, dass vom Standpunkt der Wahrnehmung aus gesehen, Zoom und Co. jeden Teilnehmer eines Anrufs in einen ständigen Sprecher verwandeln, der mit Blicken erdrückt wird.

Verstärkt wird der Stress der fortwährenden Blicke, weil die Gesichter auf dem Monitor überproportional groß sein können. Um diesen Effekt zu minimieren, soll man entweder das Fenster der Videokonferenz-Software verkleinern oder sich möglichst weit vom Computermonitor entfernen.

2. Video lenkt zu sehr ab

Videokommunikation ist deutlich anstrengender für das Gehirn als eine reine audiobasierte Kommunikation, das haben bereits mehrere Studien belegt. Bailenson zufolge erzeugt die konstante Flut komplexer, nonverbaler Hinweise, die während eines Video-Meetings gesendet und empfangen werden, ein ermüdendes Gefühl. Sein Vorschlag ist daher, bei langen Zoom-Meetings reine Audiopausen einzulegen, um die kognitive Belastung durch Videointeraktionen zu verringern.

"Mach bitte die Kamera an": Video-Konferenzen sollten die Pandemie erträglich machen, doch sie nerven nur noch

3. Das eigene Spiegelbild blickt zurück

Als wäre es nicht anstrengend genug, ständig von einer Handvoll Kolleginnen und Kollegen beobachtet zu werden, starrt einen in einer Kachel noch eine weitere Person an: man selbst. Ein kleines Fenster zeigt immerzu den Bildausschnitt, welchen man an andere Personen sendet. "Stellen Sie sich vor, an ihrem physischen Arbeitsplatz würde Ihnen während eines Acht-Stunden-Tages ein Assistent mit einem Handspiegel folgen und bei jeder einzelnen Aufgabe, die Sie erledigen, und bei jedem Gespräch, das Sie führen, dafür sorgen, dass Sie Ihr eigenes Gesicht in diesem Spiegel sehen können", erklärt Bailenson das Phänomen.

Seit Jahrzehnten untersucht die Wissenschaft den Effekt, den es auf das prosoziale Verhalten und die Selbsteinschätzung hat, wenn man sich selbst in einem Spiegel betrachtet. Genaue Ergebnisse gibt es bislang nicht, doch die bislang veröffentlichten Arbeiten legen nahe, dass es eher einen negativen Effekt gibt. Allerdings untersuchten diese frühen Forschungen meist nur kurze Zeiträume, in langen Zoom-Meetings blickt man dagegen stundenlang sich selbst an, und sei es nur aus dem Augenwinkel. Für solche Zeiträume gibt es bislang jedoch keine repräsentativen Auswertungen. Die Lösung für das Problem: Wenn die Kamera an sein soll, richtet man sich einmal aus, bis man zufrieden ist - und deaktiviert dann das Fenster mit der Selbstansicht.

4. Es fehlt Bewegung

Was mich an Videokonferenzen am meisten nervt, ist es, stundenlang vor der Kamera zu hocken. Während normaler Telefonate wandere ich gerne durch die Wohnung, an schönen Tagen gehe ich auf den Balkon. Dank In-Ear-Kopfhörer  und Smartphone-Lautsprechern kann ich bei einem reinen Audio-Call nebenbei aufräumen, mir einen Kaffee kochen, bei längeren Konferenzen habe ich - bevor das Kameralämpchen permanent grün leuchtete - sogar Yoga gemacht. Mein Rücken ist jedenfalls kein Freund des Videogesprächs.

Dabei ist bekannt, dass Bewegung die kognitive Leistung verbessert. Apple-Gründer Steve Jobs etwa schwörte auf ständiges Spazierengehen. Es ist kein Zufall, dass man im neuen Apple-Campus beinahe ohne Unterbrechung hin- und herlaufen kann. Womöglich hätte es einige Produkte nie gegeben, wenn ihre Erfinder tagein, tagaus 12 Stunden am Tag vor einer Webcam gesessen hätten.

Es ist natürlich, sich zu bewegen, während man intensiv über neue Ideen nachdenkt. Bei Zoom-Meetings fällt dieser Faktor weg, was in einigen Fällen zu weniger effizienten Meeting-Ergebnissen führen kann. Hier schlägt Bailenson vor, jedes Mal genau zu überlegen, ob ein Meeting wirklich über Zoom und Co. stattfinden muss oder ob man es auch als reines Audiogespräch abhalten kann.

Kamera aus, Ton an

Natürlich gibt es Momente, in denen eine Konferenz mit Ton UND Bild ein Gewinn sein kann. Wenn man eine Präsentation zeigt oder die Emotionen des Gegenübers erkennen möchte, hilft eine Bildübertragung. Neulich veranstalteten wir im Team unser alljährliches Neujahrsessen aus bekannten Gründen ausschließlich digital. Hier können Kameras ein wenig Nähe simulieren.

Doch im normalen Berufsalltag haben Videokonferenzen viele Vorteile, die das Home Office eigentlich mit sich bringt, überlagert. Statt also jedes mal instinktiv die Kamera anzuschalten, sollte man sie gelegentlich auslassen - und einfach nur zuhören.

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