Talokan, die beschauliche Hauptstadt von Takhar, der östlichen Nachbarprovinz von Kundus, galt bislang als einer der ruhigsten Orte im Einsatzgebiet der Bundeswehr. Weshalb die rund 40 Soldaten in diesem Außenposten auch nicht, wie in Kundus, hinter tiefgestaffelten Betonmauern und Barrikaden leben, sondern hinter einer ziemlich gewöhnlichen Mauer. Es war ja ruhig.
Bis Mittwoch. Bis in mehreren Wellen, erst morgens, dann vormittags, dann ein drittes Mal gegen Mittag erst hundert, dann tausend und mehr teils bewaffnete Demonstranten gegen das "Provincial Advisory Team" (PAT) der Deutschen anstürmten, aus Handfeuerwaffen schossen, Molotow-Cocktails und Handgranten über die Mauern ins Camp warfen und dabei drei deutsche Soldaten sowie vier afghanische Wachmänner verletzten. Die Menge sei kurz davor, das Camp zu stürmen, berichteten Soldaten. Man mag sich nicht ausmalen, was dann geschehen wäre: Ein rasender Mob von über tausend gewalttätigen, bewaffneten Männern gegen 40 Soldaten. Sehr lebendig ist noch die Erinnerung an den Überfall auf das UN-Gebäude in Mazar-e Sharif im April, als sieben UN-Mitarbeiter niedergemacht wurden. Es habe einen Schießbefehl gegeben auch für die Bundeswehrsoldaten, um die Stürmung zu vermeiden. Sie durften Demonstranten in die Beine schießen.
Afghanen schossen
Aber es seien die afghanischen Wachleute des PAT, erfuhr stern.de aus Talokan, die in Notwehr gezielt zurückschossen, wobei nach bisherigem Stand ungefähr ein Dutzend Demonstranten ums Leben kamen. Die Zahl schwankt, auch, weil viele Schwerverletzte ins örtliche Krankenhaus gebracht wurden, deren Zustand instabil sei.
Auslöser dieses jähen Ausbruchs der Gewalt war eine Operation amerikanischer Special Forces in der Nacht zuvor, die im wenige Kilometer östlich von Talokan gelegenen Dorf Gawmali gemeinsam mit afghanischen Sondereinheiten unter ihrem Kommando ein Gehöft stürmten und dabei vier Menschen erschossen – darunter auch zwei Frauen, die nach Nato-Angaben mit einer Kalaschnikow und einer Pistole bewaffnet gewesen seien. Aber schon um die Frage, wer eigentlich das Ziel der Operation war, gehen die Angaben auseinander: Laut Nato war es ein "Key Facilitator", ein wichtiger Unterstützer der usbekischen Taliban-Gruppierung IMU, die in Nordafghanistan aktiv ist. Er habe die Aufständischen mit Waffen und Sprengstoff versorgt. Laut afghanischen Sicherheitskräften war der einzige Aufständische in dem Haus ein einfacher Taliban-Kämpfer namens Qari Hassan, der mit einer der getöteten Frauen verlobt gewesen sei.
Die Meinung der Straße
Und die Meinung der Straße lautete schon am Morgen: Es sind vier Zivilisten ermordet worden! Und die Frauen, so das rasend verbreitete Gerücht, seien vergewaltigt worden! "Ob so etwas dann stimmt, interessiert in dem Moment niemanden", sagte Matin Beq, der Sohn eines örtlichen Parlamentsabgeordneten stern.de: "Jeder glaubt es, weil die Menschen es glauben wollen." Als die noch kleine Menge am Morgen die in geblümte Decken gehüllten Leichen durch die Stadt trug, konnte die afghanische Polizei sie noch mit Warnschüssen vertreiben, als sie sich vor dem einzigen Stützpunkt ausländischer Truppen, eben dem deutschen PAT, versammelte. Aber dann kamen sie wieder, zehnmal so viele und auf einmal waren viele bewaffnet. "Mein Bruder Abdullah war am Morgen auch dabei", erzählte Matin Beq, "aber dann habe ich ihn angerufen, unbedingt zurückzukommen, da nicht weiter mitzumachen", als aus einer Demonstration plötzlich ein Kampf um Leben und Tod wurde. Ein Sturm aus dem Nichts?
Es ist eher umgekehrt. Die Ruhe täuscht. Die Lage ist auch in bislang friedlichen Städten des Nordens wie Mazar-e Sharif oder eben Talokan explosiv geworden. Der geringste Anlass wird genutzt, eine von vielen Afghanen zusehends als hoffnungslos empfundene Lage zu nutzen für Gewalt. Diesmal war der Anlass - die nächtliche US-Attacke zudem keine Kleinigkeit: Denn schon im Herbst 2010 waren nördlich von Taloqan bei einem gezielten Bombardement zehn Mitglieder eines Wahlkampfteams getötet worden, darunter ein prominenter ehemaliger Kommandeur der Mudschahedin aus dem Kampf gegen die Sowjets. Sein Neffe kandidierte für das Parlament. Ein Aufschrei der Empörung war damals die Folge, Imame verdammten die Tötung überall in den Freitagspredigten. Während die Nato darauf beharrte, den Vize des Taliban-Schattengouverneurs getötet zu haben, ermittelte die Analystin Kate Clark des "Afghan Analysts Network" erst vergangene Woche, dass die Amerikaner ihn schlicht verwechselten: mit einem Taliban-Kommandeur, der lebendig und munter in Pakistan sitzt.
Entfesselte Mobs als Waffe
Aufgestaute Wut über solche willkürlichen Hinrichtungen ist ein Grund für solche Ausbrüche wie am Mittwochmorgen. Ein anderer, gewichtigerer, ist der Umstand, dass in zusehends erbitterten Machtkämpfen entfesselte Mobs benutzt werden. Die Bundeswehrsoldaten hatten weder mit dem Bombardement der Amerikaner, noch mit der Operation vergangene Nacht etwas zu tun, aber wurden dennoch angegriffen: weil sie eben da sind. Einer der örtlichen Paten mag sie als seine Feinde empfinden. Das wirkliche Ziel mag die afghanische Regierung sein.
Die Mehrheit in der Provinz stellen die Usbeken – aber fast alle Machtposten, Bürgermeister, Polizeichef, Geheimdienstchef, haben Taschiken inne. Und es seien, so ein Polizeioffizier zu stern.de, der nicht namentlich zitiert werden will, auffällig viele Männer usbekischer Kommandeure unter den Bewaffneten gewesen. "Und was sollen wir denn machen?", setzte er frustriert nach, "wir haben keine Wasserwerfer, kein Tränengas, um Demonstranten unter Kontrolle zu halten, wenn sie gewalttätig werden. Wir haben nur Schusswaffen. Wir wollen hier keinen Krieg, aber alles spitzt sich immer weiter zu."