Die Propagandavideos des Islamischen Staates kennt er aus erster Hand - denn er war Teil von ihnen: Der gebürtige Deutsche Harry S. ist das lebende Beispiel eines jungen Mannes, der in den Strudel von Kriminalität und Radikalisierung geriet, und sich in Syrien im Zentrum einer Terror-Maschinerie wiederfand. Der 27-Jährige wurde in Deutschland geboren, wuchs jedoch in Großbritannien auf und besuchte auch dort die Schule. Dann arbeitete Harry S. eine Zeit lang als Postbote - heute sitzt er in Bremen in Untersuchungshaft, der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
In einem Interview mit der britischen Zeitung "The Independent" hat Harry S. nun über seinen Anwalt von seiner Zeit beim Islamischen Staat berichtet. Seine Erzählungen zeichnen das Bild einer menschenverachtenden Terrorherrschaft, die einzig und alleine auf Lügen basiert - das musste auch Harry S. am eigenen Leibe erfahren, bis er aus dem "Kalifat" floh.
"Es ist wie ein Film, jeder spielt seine Rolle"
Harry S. war in einem Propagandavideo zu sehen, in dem Menschen umgebracht wurden. Es war der Glaube an eine "dschihadistische Fantasiewelt", die ihn angelockt hatte. Doch die Realität hätte nicht weiter von dieser Fantasie entfernt sein können: "Wenn sie in ihren Videos unter Waffen sprechen, fühlt es sich an, als würden sie dich rufen. Wir brauchen dich hier! Unsere Brüder und Schwestern brauchen dich! Wir bringen Frieden, Würde und Ehre." Doch in Wahrheit habe er sich in einer riesigen Lüge wiedergefunden: "Die meisten Videos sind inszeniert. Menschen befehlen Menschen zu morden, sie selbst jedoch kämpfen überhaupt nicht. Es ist wie ein Film, jeder spielt seine Rolle."
In dem Video, in dem Harry S. auch zu sehen war, befand er sich an der Seite eines deutschen Islamisten, der zum Dschihad gegen seine frühere Heimat aufrief: "Greift die ungläubigen in ihrem eigenen Zuhause an, tötet sie, wo auch immer ihr sie findet." Kurz darauf erschießen in dem Film ein deutscher und ein österreichischer Islamist zwei Geiseln in der antiken Wüstenstadt Palmyra, die mittlerweile aus den Händen des IS befreit werden konnte. Doch Harry S. lassen die Bilder, die er in seiner Zeit bei dem Terrorregime sah, angeblich nicht mehr los. Als er von April bis Juni letzten Jahres als Teil einer IS-Eliteeinheit in Rakka trainierte, erlebte er, wie sechs Männern mit einer Kalaschnikow in den Kopf geschossen wurde. Außerdem habe er mit ansehen müssen, wie einem Mann die Hand abgeschlagen wurde, und er gezwungen wurde, sie mit der anderen aufzuheben.
"Dein Kind wird geboren, um für nichts zu sterben"
Auch schilderte er ein Erlebnis, wonach er Zeuge wurde, wie ein Mann seinen Bruder tötete - wegen des Verdachts, ein Spion zu sein. Der IS habe ihm den Mord befohlen. "Brüder töten dort Brüder - es ist nicht nur unislamisch, es ist unmenschlich." Der 27-jährige Ex-Islamist warnt Jugendliche davor, auf die Propaganda des IS hereinzufallen. Es gäbe viele Videos, die die Mär einer islamistischen Utopie im Netz verbreiten: Kämpfer, die umringt von Kindern Süßigkeiten und Essen verteilen und das angeblich so erfüllte Leben, dass die IS-Kämpfer hätten, stünden im krassen Kontrast zur Brutalität, die Harry S. erlebt habe.
Steinigungen und Enthauptungen seien an der Tagesordnung gewesen. Dazu kamen tägliche Bombardements durch die Anti-IS-Koalition. Die bittere Realität begreife man erst, wenn wann dort sei, so Harry S., doch sobald man dort sei, "ist es zu spät, um umzukehren." Frauen reisten oft mit einem romantischen Irrglauben in das Kalifat. Auch für sie sei das Leben im Terrorstaat alles andere als angenehm: "Keine Freiheiten, eingeschlossen in einem Haus. Dein Kind wird geboren, um für nichts zu sterben."
Der Islamische Staat ist "vollkommen unislamisch"
Viele Kämpfer des IS hätten versucht aus dem Terrorstaat zu fliehen, so Harry S.: "Sie sind entweder tot oder im Gefängnis und warten auf ihre Exekution." Sein Studium des Korans habe den 27-Jährigen zu dem Schluss geführt, dass der Islamische Staat "vollkommen unislamisch" sei. Er habe begriffen, dass der Weg des IS direkt in die Hölle und nicht ins Paradies führe. "Ich wollte nicht, dass ich Menschen so in Erinnerung bleibe und ich wusste, dass wenn ich mich nicht an diesen barbarischen Taten beteilige, könnte ich nach Hause zurückkehren und der Welt meine Geschichte erzählen."
Als er in einem Krankenhaus wegen Hapatitis C behandelt wurde, habe Harry S. seine Chance zur Flucht gesehen, sich aber keine Hoffnung gemacht, zu überleben. "Ich wusste, ich würde sowieso sterben, also hatte ich nichts zu verlieren." Der Weg in die Türkei habe vorbei an Minen, Scharfschützen und Kämpfern geführt - er sei gejagt und beschossen worden und habe sich neun Stunden im Matsch versteckt. Schlussendlich gelang ihm die Flucht in die Türkei, von wo aus er nach Bremen flog. Dort nahm ihn die Polizei am Flughafen fest.

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