Erst die gute Nachricht: Das Henne-Ei-Problem der Mobilitätswende ist offenbar gelöst. Lange schien es, als fehlte es an Auflademöglichkeiten, um Elektroautos attraktiv zu machen; aber die Stationen baute keiner, weil es ja kaum Autos gab. Nun steigt die Zahl der Ladepunkte im öffentlichen Raum rasant. Vergangene Woche gab der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) bekannt, er habe bis Ende Juli 20650 in Deutschland gezählt – 52 Prozent mehr als im Vorjahr. Strom gebe es ohnehin reichlich, so der BDEW: Mit den vorhandenen Netzen könnten bis zu 13 Millionen Fahrzeuge geladen werden.
So groß ist der Bedarf allerdings bei Weitem nicht. Aktuell sind in Deutschland gut 119.000 Elektroautos zugelassen.
Geht es nach dem Willen der meisten Autohersteller, wird der Bestand in diesem Jahr auch nur minimal wachsen. Dahinter steckt nüchternes Kalkül: Erst 2020 gelten die deutlich strengeren europäischen Flottengrenzwerte von durchschnittlich 95 Gramm CO2 pro Kilometer. Hersteller, die diese Werte überschreiten, müssen mit horrenden Strafzahlungen rechnen. Ein noch in diesem Jahr in den Verkehr gebrachtes Fahrzeug nützt der CO2-Bilanz aber kein bisschen. Ab dem kommenden Jahr jedoch schlägt jedes neu zugelassene Elektroauto in der Emissions-Statistik positiv zu Buche.
Für einen Autobauer wie Tesla, der ohnehin nur Elektroautos herstellt, sind diese Zahlenspiele egal – er unterbietet die Grenzwerte ja bereits heute. Doch jene Konzerne, die noch keine oder kaum E-Autos im Programm haben, stehen in diesem Jahr auf der Bremse. "Da steckt klar Absicht dahinter", sagt der Berliner Marktbeobachter und Branchenexperte Matthias Schmidt. "Meine Kontakte bestätigen das."
Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach stützt die These des Kollegen. "Die Hersteller haben vor Jahren schon mit Berechnungen begonnen, welche Modelle mit niedrigen Emissionen sie zu welchem Zeitpunkt auf den Markt bringen müssen, um Strafzahlungen an die EU zu vermeiden." Alle schauen also auf 2020.

Ein Beispiel: Der neue Opel Corsa kommt noch 2019 als Verbrenner auf den Markt. Die elektrische Variante, der Corsa-e, wird erst ab dem Frühjahr 2020 ausgeliefert. Ein ähnlicher Zeitplan gilt für das Schwestermodell im PSA-Konzern, den Peugeot 208. Mit Verbrennungsmotor im November 2019, die Elektroautos werden erst ab Januar 2020 ausgeliefert. Und der VW ID.3, das erste Modell einer komplett neuen Fahrzeug-Familie aus Wolfsburg, steht zwar im September auf der IAA. Zu den Kunden kommt der ID.3 nicht vor dem Frühjahr.

Der Trick mit den Plug-in-Hybriden
Die Hersteller wollen nicht nur Strafgelder vermeiden, sondern schauen auch auf die Rendite. Für die sorgen vor allem Autos mit traditionellem Antrieb. „Mit den neuen E-Autos verdienen sie nicht viel“, sagt Stefan Bratzel. Die hohen Entwicklungskosten verhageln vorerst die Bilanz der neuen Modelle. Vor allem Premiumhersteller wie Mercedes-Benz würden daher versuchen, die Emissionsgrenzen mit sogenannten Plug-in-Hybriden zu unterbieten. Diese Fahrzeuge verfügen über eine kleine Batterie, die an der Steckdose geladen werden kann – aber nicht muss, denn an Bord ist außerdem noch ein klassischer Verbrenner. Vorteil für die Bilanz der Industrie: Verbrauch und Emissionen von Plug-in-Hybriden werden sowohl im elektrischen Modus als auch mit Verbrennungsmotor gemessen – selbst wenn die Kunden diese Fahrzeuge nie an der Steckdose aufladen. "Die Normverbräuche liegen zwischen zwei und drei Litern", sagt Stefan Bratzel, "die Realverbräuche dagegen bei sechs, sieben oder mehr Litern."
Die Autobauer haben noch ein weiteres Ass im Ärmel. Seit diesem Jahr fließen die Zulassungen von Norwegen, dem größten europäischen Markt für E-Autos, in die Bilanz mit ein – und das, obwohl das Land gar kein EU-Mitglied ist. Der Anteil von Elektroautos an den Zulassungen beträgt dort rund 45 Prozent. Der CO2-Ausstoß von Neuwagen ist im Königreich bereits auf durchschnittlich 67 Gramm pro Kilometer gesunken. "Das ist ein echter Joker für die Hersteller, um ihre Ziele besser zu erreichen", sagt Matthias Schmidt.