Mercedes Elektronische Vorsehung

Bei künftigen Mercedes-Modellen haben computergesteuerte Radaraugen alles im Blick. Ziel ist es, damit eines Tages Unfälle zu verhindern

Mehr als zwei Tonnen Mensch und Maschine in einer Art Tiefflug. Schwerelos scheint die mit Messinstrumenten voll gepackte Mercedes S-Klasse über die Eisdecke des zugefrorenen Sees zu düsen. Es ist erst kurz nach vier Uhr nachmittags, aber über der erstarrten Landschaft liegt bereits die stockfinstere Polarnacht. Auf der weiten Eisfläche herrscht reger Betrieb - Scheinwerfer stieren aus der Dunkelheit und bewegen sich, überall flackern Warnblinkleuchten, und die aufgewirbelte Schneegischt strahlt rot von den Heckleuchten der Autos. Eintönige Messfahrten werden bis zur Ermüdung wiederholt. Immer im Kreis, hundertmal bremsen und wieder anfahren. Oder eine 86-Kilometer-Tour auf der Straße von Arjeplog nach Arvidsjaur und wieder zurück.

Hochbetrieb am schwedischen Polarkreis, die noch geheimen Autos müssen fit für die Serie gemacht werden. Mattschwarz angemalte Prototypen sind mit klobigen Aufbauten so verfremdet, dass sie für lauernde Erlkönig-Fotografen möglichst uninteressant sind.

Das stern-Team sitzt in einem Erprobungsfahrzeug von Mercedes. Mit an Bord der alten S-Klasse ist Karl-Heinz Baumann, Entwicklungsingenieur bei Daimler-Chrysler. Es wird ein elektronischer Superschlauberger namens Advanced Pre-Safe getestet, der in der nächsten S-Klasse im September Premiere feiern wird. Sein Radarblick soll kritische Situationen im Ansatz erkennen und, wenn möglich, Unfälle vermeiden.

Äußerlich ist der großen Limousine kaum anzumerken, dass sie mit einer besonderen Technik ausgerüstet wurde. Im Kühlergrill sitzt ein Radargerät, das im schmalen Winkel 150 Meter nach vorn schaut. Weitere vier Radarsensoren sitzen in den Stoßfängern, die zusammen einen Halbkreis von 30 Metern vor dem Fahrzeug abdecken. Und mit zwei baugleichen Sensoren kann das Auto genauso weit nach hinten blicken. Alle Objekte im Sichtfeld des Radars werden an den Bordcomputer gemeldet. Der berechnet blitzschnell, ob es gefährlich werden kann.

Der Weitblick der Radaraugen wird auch vom Parallelsystem Distronic Plus genutzt, das automatisches Kolonnenfahren möglich macht. Wie an einer unsichtbaren Leine folgt die Luxuslimousine dem Vordermann, bremst und fährt von selbst wieder an, sofern der Halt nicht länger als eine Sekunde dauert. "Bremst du überhaupt nicht?", fragt der Fotograf aus dem Fond irritiert. Als Antwort hebe ich die Beine aus dem Fußraum. Fast im selben Moment kommt die S-Klasse am Tor des Testgeländes hinter dem Vorausfahrzeug zum Stillstand. Knapp eine Sekunde später setzt sie sich wieder in Bewegung. Im Spiegel sehe ich ungläubiges Kopfschütteln. Der vorher eingestellte Abstand bleibt gleich, geregelt vom Radargerät im Kühlergrill und dem Tempomaten.

Die Entwickler haben beim Programmieren an die typische Innenstadt-Situation gedacht, wo es wegen des dichten Verkehrs viele kurze Stopps gibt. Wer länger steht, etwa an einer Ampel, muss kurz vor dem Anfahren nur am Hebel des Tempomaten ziehen, dann weiß der Bordcomputer: "Alles okay, keine Kinder, Fußgänger oder sonst was auf Kollisionskurs", und ruck, zuck hängt der Wagen wieder am unsichtbaren Schlepptau.

Plötzlich bremst

der vordere Wagen scharf. Auf Eis! Jetzt muss der Radarwachhund blitzschnell erkennen, was vorn passiert, in der Zeit eines Wimpernschlages den sich verringernden Abstand als bedrohlich einstufen und Gegenmaßnahmen einleiten. Ein Warnton und eine aufleuchtende Lampe im Cockpit fordern mich auf, schnell hart zu bremsen. Ich trete jedoch vorsichtig aufs Pedal, weil mir das Eis nicht geheuer ist. Sofort bremst der Computer mit, weil er dank des Radars berechnet hat, dass meine vorsichtige Bremserei unweigerlich zum Knall führt. Endlich kommt das Auto mit pulsierender ABS-Bremse und leicht glitschend zum Stehen - ohne dass ich wirklich voll aufs Pedal getreten hätte.

Selbstbewusst sagt Karl-Heinz Baumann, das sei "ein Quantensprung". Advanced Pre-Safe, die Ausbaustufe des bereits kaufbaren Vorgängersystems, kann noch mehr. Die Sitze können ihre Flanken aufblasen und dadurch die Passagiere so in Positur bringen, dass ihnen bei einem Unfall möglichst wenig passiert. "Damit zentrieren wir den oder die Insassen. Nur so können Gurt und Airbag optimal schützen", sagt Baumann.

Kaum zu glauben, dass dies wirklich funktioniert. Der Testfahrer will es uns beweisen und tritt plötzlich voll in die Bremse. Jetzt scheint der Wagen lebendig zu werden. Wie von Geisterhand gesteuert setzt sich summend der Beifahrersitz in Bewegung, die Sicherheitsgurte schlingen sich fest um alle Insassen, die Vordersitze werden plötzlich sehr zudringlich. Tatsächlich blasen sich die Sitzflanken auf und drücken von zwei Seiten. Hätte der Beifahrer die Sitzlehne zum Schlafen flach gestellt, würde der Computer den Sitz des Beifahrers rechtzeitig vor dem Knall aufrichten. Dabei zählt jeder Millimeter.

Doch es gibt

keinen Crash. Ruckend stoppt der Wagen. Die Sitzseitenteile erschlaffen, surrend lockern sich die Gurte. Baumann und seine Forscherkollegen im Konzern haben eine Vision, an deren Realisierung sie sich seit Jahren Stück für Stück heranarbeiten: "Wir wollen beweisen, dass der unfallfreie Verkehr eines Tages möglich ist." Advanced Pre-Safe ist ein großer Schritt in diese Richtung. Weitaus größer jedoch wird der sein, den die Branche vielleicht in zehn oder fünfzehn Jahren macht: Dann müssen die Modelle aller Marken miteinander kommunizieren, damit sich die Bordcomputer in den Autos eines bestimmten Umkreises aufeinander abstimmen, um Gefahrensituationen zu vermeiden.

Eigens dafür wurde von großen europäischen Autoherstellern wie BMW, Volkswagen und Daimler-Chrysler zusammen mit Bosch und Siemens Automotive ein Konsortium gebildet, das sich auf gemeinsame Standards für das Nahradarsystem geeinigt hat. Im Januar gab die Europäische Union ein Frequenzband (24 Gigahertz) dafür frei. Auch wenn die Richtung klar ist, "es ist noch ein weiter Weg", sinniert Baumann, der sich noch gut an die Probleme bei der Entwicklung erinnert. "Am Anfang haben die Radarstrahlen bei jedem Gullydeckel Alarm geschlagen. Und die Kuhgitter, die in der Nähe von Viehweiden häufig in Nebenstraßen eingelassen sind, wirkten für das Radar wie eine Wand." Das System konnte die unterschiedlichen Radarreflexe von den quer hintereinander liegenden Rohren zunächst nicht verarbeiten. Baumann: "Aber das haben wir in den Griff bekommen." Und was passiert, wenn die Radaraugen Dinge überbewerten? Eine gefährliche Vollbremsung in dichtem Verkehr, nur weil vorn eine Zeitung über die Straße geweht wird? Damit das System auch dies begreift, fahren mehrere Taxis rund um die Uhr mit dem Radarsystem durch den dichten Stadtverkehr Stuttgarts. Dabei muss der Rechner zum Beispiel auch lernen, zwischen Autos zu unterscheiden. Etwa denen, die am Straßenrand parken, also keine Gefahr darstellen, und jenen, die an einer Kreuzung abbiegen und dabei ein Stück entgegenkommen. Termin ist im September. Dann, bei der Premiere, muss alles funktionieren. Für alle Fälle aber bleibt das Kommando immer beim Fahrer. Eine Bevormundung wird es nicht geben, der Mensch wird auch diese Supertechnik immer überstimmen können. "Wenn man bedenkt", strahlt Karl-Heinz Baumann, "wie die Fahrzeugsicherheit mal mit möglichst steifen Autos angefangen hat. Dann kam die Knautschzone, danach die Sicherheitslenksäule, der Gurt und so weiter. Schließlich kamen die Crashzonen in den Flanken und der Airbag. Und jetzt haben unsere Autos Radaraugen. Ich finde den Fortschritt aufregend."

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Johannes Riegsinger

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