Scheibes Kolumne Digital-Mucke ohne Seele

Knapp 6.000 Songs finden auf dem iPod von Stern.de-Kolumnist Scheibe Platz. Der möchte sein Gerät nicht mehr missen, trauert aber noch immer den guten, alten Zeiten nach, als es noch galt, neue Songs mit viel Glück und Können dem UKW-Radio abzupressen.

Knapp eine Woche hat es gedauert, dann hatte ich alle meine alten Audio-CDs in den Rechner und damit auch auf den iPod überspielt. Neue Musik kaufe ich seitdem nur noch bei iTunes ein - per Mausklick. Da ist es kein Wunder, dass sich inzwischen 6.000 (legale!) Songs auf der weißen Wunderschachtel von Apple angesammelt haben. Ich finde das noch immer unglaublich: Eine Zimmerwand voller CDs kann nun zur Endlagerung in den verstaubten Keller wandern. Alles passt auf ein Gerät, das nicht größer ist als eine simple Zigarettenschachtel.

Ich bin kein Einzelgänger, der iPod und seine preiswerteren Kollegen sind überall. Mein Kumpel Thorsten hortet bereits 30 Gigabyte mit Musik. Und mein alter Schulkamerad Patrick, der jetzt in Harvard lehrt, rechnet fast schon in Terabyte: Gib du mir deine externe Festplatten mit deiner gesamten Musik, dann kriegst du meine. Er berichtet aus den USA, dass sich die Studenten gerne auf einen Kaffee bei Starbucks verabreden, um dann hier ihre Musikbibliotheken miteinander zu synchronisieren. Legal ist das zwar nicht. Aber noch nie war es so einfach, Musik zu tauschen.

Die Kunst des präzisen Tastendrückens

Bei dem ganzen Spektakel wird die Musik aber leicht zur Massenware und verliert ihre Seele. Wie gut kann ich mich noch an die Achtziger erinnern, als englische Bands wie Simple Minds, Depeche Mode und Ultravox gerade erst aufkamen. Jürgen Jürgens spielte die Charts damals im Berliner Radio - aber nur einmal in der Woche. Wir alle hingen dann gebannt im Jugendzimmer der Elternwohnung vor der ersten eigenen Stereoanlage, um nur ja nix zu verpassen. Sobald Jürgens mit dem Sabbeln aufhörte, drückten wir die Aufnahmetaste und schnitten den neuen Song mit. War er nicht gut, wurde gleich wieder zurückgespult, um stattdessen ein anderes Lied aufzunehmen. Und wehe, der Moderator fing wieder mit dem Sprechen an, bevor der Song zu Ende war. Vor allen Dingen bei den langsamen Stücken passierte das immer wieder. Das war echt zu blöd, denn gerade diese Songs brauchten wir doch dringend für die Blues-Partys, wo bei schummrigen Licht zum ersten Mal Nahkontakt zum anderen Geschlecht aufgebaut wurde.

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Shoppen statt Sprechen

Ohne Musik ging damals nichts - und Musik war wirklich kostbar. Irgendjemand brachte immer eine neue Platte an, die dann die Runde machte. England-Urlauber waren damals besonders hoch angesehen, denn nur auf der Insel gab es die wirklich heißen Insider-Bands zu entdecken. Band wie Spear of Destiny, Orange Garden oder ABC hätten wir wohl nie gehört, wenn nicht immer mal wieder einer von uns den ersten Virgin Superstore in London gestürmt hätte. Ich war als Teenager zweimal mit den EF Sprachreisen in England unterwegs - und fühlte mich stets wie im heiligen Mekka angekommen, wenn sich die Chance ergab, einen englischen Plattenladen zu stürmen.

Dann kam der Sony Walkman - und endlich konnte man mit seiner Angebeteten nachts um die Krumme Lanke spazieren und dabei gleichzeitig über einen Kopfhörer einen speziellen Love-Midnight-Walking-Mix hören, den man tagsüber extra für diesen Anlass auf Kassette zusammengestellt hatte. Gibt es so etwas denn heute noch? Oder wird daraus dann doch wieder der Meine-Liebsten-Lieder-Mix auf MP3-CD mit 333 Songs? Tja, liebe Jugend von heute: Zu viel ist nicht gut. Wirkung hat so ein Mix eben doch nur dann, wenn er eben nicht per Tastendruck generiert wird, und wenn der Junge, der den Mix zusammenstellt, sich bei jedem einzelnen Song auch wirklich etwas dabei gedacht hat.

Geschmacksfrage, Geschlechterfragen

Denn das Problem von damals bleibt wohl bestehen: Mädchen stehen auf leichte Tanzmusik, Jungs eher auf kompliziertere Musik, die das eigene Lebensgefühl ausdrückt. Statt Abba eben Neil Young, statt Madonna dann doch lieber die Doors. Und für die Deprinummer dann Hazel O'Connor mit der Filmmusik zu "Breaking Glass". Talking Heads, wenn es intellektuell werden darf. So können die Mädels einen existenziellen Musikmix mit Aussage zwar nicht richtig würdigen, honorieren aber wenigstens die Mühe, die sich die Jungs am Kassettenrekorder gemacht haben.

MP3 und iPod sorgen dafür, dass Musik komfortabel, immer verfügbar und technisch brillant ist. Aber der Fortschritt nimmt die Seele aus der Musik. Die modernen MP3-Player kriegen ja nicht einmal mehr einen Wackelkontakt an der Lautsprecherbuchse hin, der früher einfach obligatorisch war und Gesprächsstoff für Wochen lieferte.

Eine Glosse von Carsten Scheibe, Typemania

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