Begeistert hält sich das Mädchen den kleinen Computer vor die Nase. "Da war eben ein Apfel. Halt ihn noch mal über den Würfel", drängt die Freundin neben ihm. Und tatsächlich - wenn die Schülerin das Gerät über den Würfel bewegt, zeigt das Display Äpfel und einen Kessel mit neongrünem Zaubertrank.
Es ist Tag der Technik am Fraunhofer-Institut auf Schloss Birlinghoven in Sankt Augustin. Anne-Kathrin Braun, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT), schiebt Karten und Würfel unter einen mobilen Computer. Auf der Oberseite des Würfels ist ein Code abgebildet. Eine Kamera an der Rückseite des kleinen Computers erkennt das Zeichenmuster und zeigt das zu ihm gehörende Bild an. Die Mädchen sehen nun auf dem Bildschirm nicht nur ihre Umgebung, sondern auch Äpfel oder Hamburger als Animation. "Und so könnt ihr euren eigenen Zaubertrank zusammenstellen." Gebannt schauen die Mädchen der virtuellen Hexenkunst im Kessel zu. "Die Kinder finden das toll", erzählt die Informatikerin später, "ein Junge sagte uns, dass das vielleicht der Gameboy der Zukunft sei."
Bei der Entwicklung dieser Programme würde wohl gern manches Kind aushelfen. Denn für Anne-Kathrin Braun gehört das Spielen zum Alltag. Zusammen mit den Informatikern Iris Herbst und Richard Wetzel hat sie eine Möglichkeit entwickelt, eine reale Umgebung in ein interaktives Märchen zu verwandeln. Diese Art von Spielen wird auch als "pervasiv" bezeichnet. Frei übersetzt bedeutet das "durchdringendes Spielen". Die Technik überwindet die bisherigen Grenzen der Computerspiele und verbindet Realität mit Fiktion. Ursprünglich sollte für das EU-geförderte Projekt "IPCity" eine Technik entwickelt werden, um Städte-Bauplanungen anschaulicher zu gestalten. Mit mobilen Geräten sollten die Bewohner ihre Stadt erkunden oder auch geplante Gebäude schon vor dem ersten Spatenstich in voller Größe betrachten können.
Heinzelmännchen in 3D
Unter dem Namen "TimeWarp" entstand daraus das aktuelle Projekt für IPCity. Die Geschichte des Spiels geht auf eine Kölner Sage zurück, in der die Heinzelmännchen nachts die Arbeit der Bürger verrichten. Wenn sie jedoch dabei jemand beobachtete, versteckten sie sich sofort wieder. Im Spiel sind die Wichtel noch immer in verschiedenen Epochen der Stadt Köln gefangen. Mit einer Datenbrille oder einem mobilen Gerät ausgestattet müssen die Spieler die Heinzelmännchen befreien. Dabei begeben sie sich auf eine historische Reise. Neben den virtuellen Zwergen sind Gebäude der Stadt Köln aus der Römerzeit und dem Mittelalter wieder zu sehen. Das Spiel ist zugleich ein Reiseführer und Geschichtsbuch.
Das Team des Fraunhofer-Instituts arbeitet dafür mit einer speziellen Ausrüstung. Auf kleine und leichte Geräte wie Handys oder tragbare Computer wird zuvor eine spezielle 3D-Software aufgespielt. So mutieren Kommunikation zum Spielzeug.
Umfangreiche Spielausrüstung
Tracking-Systeme sind ebenfalls Teil der Ausrüstung: Wie bei einem Navigationssystem können sie die Positionen der Spieler bestimmen und auch den damit verbundenen Spiel-Level bestimmen. Außerdem arbeiten die Wissenschaftler mit Datenbrillen, die über Mini-Displays verfügen, so genannte Head-Mounted-Displays. Einmal die Brille aufgesetzt, sehen Spieler die reale Umgebung und zusätzliche Bilder. Über tragbare Computer erhalten die Spieler Informationen zu ihrem Standort. Theoretisch könnten im Spiel alle elektronischen Medien verwendet werden wie etwa Handys oder mobile Computer. Außerdem könnten selbst die Spieler untereinander per Funk kommunizieren, um das Spiel möglichst realistisch zu gestalten.
In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Pilotprojekte zu pervasiven Spielen. 2004 experimentierte Adrian Cheok am Mixed Reality Lab der National University in Singapur und schuf ein Spielzeug, das mithilfe von Datenbrillen dreidimensionale Animationen zeigte. 2005 folgte erstmals das Fraunhofer-Institut mit dem Spiel "NetAttack", einer Art Schatzsuche. Auch in anderen Branchen hat sich die Arbeit mit der erweiterten Realität durchgesetzt wie beispielsweise in der Medizin. So erhalten Ärzte bei der Operation den buchstäblichen Röntgenblick, indem sie mit Hilfe von Datenbrillen arbeiten. Selbst in der Industrie oder dem Militär hat die Technik längst Einzug gehalten.
Ob pervasive Spiele bald zum Gameboy der Zukunft werden, bleibt fraglich. Doch diese Entwicklung hat Anne-Kathrin Braun nicht im Blick: "Wir warten eher darauf, dass virtuelle Animationen bald nicht mehr von der Realität zu unterscheiden sind."