Liebe Frau Dr. Peirano,
ich, 32, hatte noch nie eine längere Partnerschaft und habe mich immer unter Druck gesetzt. Meine Freundinnen haben alle Partner, oder hatten schon mehrere, nur ich nicht.
Wenn ich einen Mann kennengelernt habe und ihn richtig gut fand, habe ich mich da reingesteigert. Ich konnte mich manchmal auf nichts anderes konzentrieren und habe immer gewartet, bis er sich gemeldet hat. Und wenn er nicht wirklich interessiert gewirkt hat, habe ich mit meinen Freundinnen alles stundenlang analysiert. Das war irgendwie verspannt und angestrengt. Und ich habe es als persönliches Versagen empfunden, wenn es nichts geworden ist.
Und dann hatte letzten Sommer ich durch Zufall zwei Männer auf einmal kennengelernt und mit beiden was angefangen. Da merkte ich plötzlich: Ich bin viel entspannter, wenn einer sich nicht meldet, denn da ist ja noch der andere! Und als es mit einem der beiden zu Ende war, habe ich auf Tinder noch mehr Männer gefunden. Das hat sich seit ca. sechs Monaten so eingespielt, dass ich mich immer mit mehreren Männern treffe. Und wenn Sie sich jetzt fragen, ob da auch Sex im Spiel ist, kann ich sagen: Ja. Ich schlafe auch mit mehreren Männern. Mittlerweile sind es so ca. 14 Männer in diesem halben Jahr gewesen. Die Männer wissen nichts voneinander, aber solange sie keine feste Beziehung mit mir wollen, finde ich es auch okay.
Ich fühle mich eigentlich ganz wohl damit. Es ist sehr aufregend und ich bekomme viel Bestätigung. Nun hat meine Schwester Wind davon bekommen und hat mich angefahren, ob ich völlig verrückt geworden bin. Ich würde mich selbst verlieren, mich unter Wert verkaufen, ich würde mich nie mehr verlieben, wenn ich so weiter mache und vielleicht sexsüchtig werden.
Das hat mich doch irgendwie verunsichert, und ich wollte Sie fragen, ob Sie es für schädlich halten, was ich mache. Und ob ich mir dadurch die Chancen auf einen Partner verbaue.
Viele Grüße und danke,
Isa Z.
Liebe Isa Z.,
Ich denke, dass es völlig unwichtig ist, was ICH von Ihrem Experiment halte und was ICH glaube, wie es endet. Viel wichtiger ist doch, was SIE davon halten. Und mir kommt es so vor, als ob da ein großer blinder Fleck bei Ihnen ist, denn sonst hätte die "Predigt" Ihrer Schwester Sie nicht so verunsichert. Gerade, dass Ihre Schwester, die ja die gleiche Erziehung wie Sie gehabt hat, so 180 Grad anders über Ihr Verhalten denkt, lässt vermuten, dass Sie mit voller Kraft vorausetwas machen, das durch Ihre Erziehung eigentlich als verpönt gilt.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
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Vielleicht könnten Sie damit anfangen und sich vorstellen, was Ihre Mutter Ihnen sagen würde, wenn Sie davon wüsste, dass Sie mit mehreren Männern schlafen, nur so zum Spaß oder um sich auszuprobieren.
Sie könnten eine einfache Übung machen und zwei leere Stühle bei sich aufstellen, und sich dann vorstellen, dass Ihre Mutter auf Stuhl Nummer 1 sitzt. Dann setzen Sie sich auf Stuhl Nummer 1, sind quasi Ihre Mutter, und lassen mal alles vom Stapel, was Sie über das Verhalten Ihrer Tochter Isa denken.
Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Sie könnten sich auf den zweiten leeren Stuhl setzen und als Isa Ihrer Mutter antworten. Und wenn Sie geantwortet haben, wieder auf den ersten Stuhl und Ihre Mutter antworten lassen - bis die Übung sich erschöpft hat. Sie könnten aber auch auf Stuhl Nummer 2 eine Ratgeberin setzen, die Sie sehr gut kennt und die Sie Ihr ganzes Lebern lang begleitet hat - nämlich sich selbst. Und dann würden Sie aus dieser Perspektive von außen Isa und Ihrer Mutter auf dem anderen Stuhl sagen, was Sie gerade beobachten. Sprechen Sie unbedingt in der dritten Person:
Isa ist gerade in einer Phase…
Isa braucht das, weil…
Isa fühlt sich…
Es würde überhaupt nichts bringen, wenn man Isa jetzt folgendes sagt:…
Isa macht sich selbst Sorgen um…
Es würde Isa im Moment helfen und unterstützen, wenn…
Als Mutter können Sie im Moment folgendes falsch machen…
Wie würde Isa richtig zu dem finden, was Sie will?
Was würde Isa bei der Partnersuche helfen?
Die Übung klingt vielleicht harmlos, aber sie kann eine interessante und sehr wichtige Sicht auf die Lage zutage fördern. Da Ihr inneres Bild von Ihrer Mutter und gleichzeitig Ihre innere Ratgeberin Ihre Wahrnehmung und Meinung aussprechen, wird der Konflikt, der in Ihnen ist, deutlich aufgezeigt. Und gleichzeitig werden Sie, wenn Sie solche Übungen häufiger machen, an innerer Stärke und Orientierung gewinnen. Denn Sie hören auf sich selbst als Ratgeberin und orientieren sich nicht daran, was Dritte Ihnen sagen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Experimentieren mit Ihren inneren Stimmen!
Herzliche Grüße,
Julia Peirano