Deutscher Schulpreis Der Direx-Faktor: Brinker ist der Beste

Von Ingrid Eißele
Ob eine Schule gut ist oder schlecht, hängt mehr denn je an einer Person: dem Schulleiter. Dummerweise sind Tausende Stellen nicht besetzt. Der Sieger des Schulpreises, die Grundschule auf dem Süsteresch, hat das Glück, einen besonders engagierten Direktor zu haben.

Die Frühgymnastik will er nicht verpassen. 7.50 Uhr, "Warm-up" in der Aula, und alle machen mit, so wie jeden Morgen, die Kolleginnen und Kollegen, die Schüler von Klasse eins bis vier. Fünf Mädchen klettern auf die Bühne, recken die Arme, dehnen die Oberschenkelmuskulatur, und der Herr in weißem Hemd und Krawatte dehnt mit, dreht sich im Kreis, springt von einem Bein aufs andere.

Inmitten der Kinder sieht er mit seinen langen Armen aus wie ein Albatros, der vormachen will, wie man fliegt.

Kurz darauf eilt Heinrich Brinker, 58, zu seinem Büro. Unterwegs begegnet ihm Jan-Hinnerk aus der dritten Klasse. "Wie heißt dein Bruder?", fragt der. Und schon redet der Schulleiter über seinen Bruder und dessen Bauernhof und die Zahl der Bullen im Stall ("über 1000 und 300 Zuchtsauen").

Keine Frage, der Mann ist beliebt.

"Herr Brinker ist der Beste“, steht auf einem Plakat in seinem Schulleiterbüro, unterzeichnet von der Klasse 2 b. Daneben sein Porträt, zusammengesetzt aus tausend Fotoszenen aus dem Schulalltag, ein Geschenk der Kollegen zum Fünfzigsten. Die Tür zu seinem Büro steht, wie sich das für einen modernen Manager gehört, immer offen.

Dynamisch und visionär

Seit 20 Jahren leitet er die Grundschule auf dem Süsteresch im niedersächsischen Schüttorf. In dieser Woche wurde sie als "beste Schule des Jahres 2016" mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Die Juroren lobten das innovative Gesamtkonzept und das hohe Niveau des Unterrichts, der den Kindern viel Freiheit gebe, ihren Lernweg zu finden und dabei noch den Mitschülern zu helfen. Er habe "noch nie so ruhig arbeitende, entspannte Kinder gesehen", lobte ein Jurymitglied. Dahinter stehe ein Kollegium, das intensiv zusammenarbeite – und eine Schulleitung, die "hochdynamisch" sei und "visionär".

Da wird Bildungsreform nach Bildungsreform verabschiedet, da wird um Schulsysteme und Philosophien gestritten, um G8 und G9, um Ganztagsschulen, Unterrichtspläne und Klassenstärken – am Ende hängen der Erfolg und die Qualität einer Schule aber vor allem an einer Instanz: dem Schulleiter oder der Schulleiterin.
Sie muss die Wünsche von Kindern, Lehrern, Eltern und Behörden zusammenbringen – und das bei stetig steigenden Anforderungen. Insbesondere jetzt, da die Schulen mit der Inklusion und der Integration der Flüchtlingskinder eine Jahrhundertaufgabe zu bewältigen haben.

"Am Schulleiter oder der Schulleiterin hängt nahezu alles", sagt Hans Anand Pant, der Leiter der Deutschen Schulakademie. "Schule zu verändern ist ohne sie schwierig, nahezu aussichtslos." Das Dumme ist nur: Den Schulen gehen die Schulleiter aus. 

Zu wenig Wertschätzung, zu viel Stress

Immer weniger Lehrer haben Lust, diese Verantwortung zu übernehmen. Allein in Niedersachsen werden mehr als 200 Schulleiter gesucht. In Nordrhein- Westfalen sogar mehr als 700 und mehr als 1200 Stellvertreter, vor allem an Grundschulen. Jede siebte Stelle ist dort nicht besetzt, bei den Konrektoren sogar jede vierte. Und das Problem wird sich noch verschärfen, weil im kommenden Jahrzehnt viele Direktoren in den Ruhestand gehen, weit mehr als 1000 allein in NRW.

Der Deutsche Schulpreis

Die Auszeichnung

Zum zehnten Mal wurde in dieser Woche in Berlin der vom stern und der ARD unterstützte Preis der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung verliehen. Seit 2006 werden damit Deutschlands beste Schulen geehrt. Er soll zeigen: Gute Schule ist machbar, unabhängig von Schulform und Bundesland. Mehr als 1700 Schulen haben sich seitdem um den "Oscar der Schulen" beworben. Sie durchlaufen ein umfangreiches Bewerbungs- und Testverfahren. Über die Gewinner entscheidet eine Jury aus Wissenschaftlern, Schulleitern und Pädagogen anhand von Kriterien wie Leistung, Unterrichtsqualität oder Schulklima. Der stern hat das Projekt von Anfang an unterstützt. Mehr unter: www.deutscher-schulpreis.de


Die Preisträger 2016 

Hauptpreisträger ist die Grundschule auf dem Süsteresch in Schüttorf, sie erhält 100.000 Euro.
Ausgezeichnet wurden auch das Humboldt-Gymnasium in Potsdam, die Schule für Erwachsenenbildung e. V. in Berlin, die Freiherr-vom- Stein-Schule in Neumünster und die Schule St. Nicolai mit dem Standort am Nordkamp in Westerland. Sie erhalten je 25.000 Euro. Als erste Auslandsschule erhielt die Deutsche Internationale Schule Johannesburg einen Sonderpreis.

Die Vorbildfunktion

Die Auszeichnung soll andere Schulen zur Nachahmung ermuntern. Es gebe eine Zeit vor dem Schulpreis und eine danach, sagt die Leiterin der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund, die 2006 den ersten Deutschen Schulpreis gewann. Seitdem kamen zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland zu Hospitationsbesuchen.
"Erstaunlich, dass die Wirkung bis heute anhält", sagt Gisela Schultebraucks-Burgkart. Auch Wolfgang Vogelsaenger, Leiter der Georg-Christoph-Lichtenberg- Gesamtschule Göttingen, des Preisträgers 2011, beobachtet: "Vorher oft als Exot abgetan, erfahren wir seitdem eine hohe Akzeptanz."


Die Akademie

Für den Erfahrungs- und Wissensaustausch sorgt die 2015 gegründete Deutsche Schulakademie in Berlin.
Sie bietet Workshops, Fortbildungen und Hospitationsprogramme. Mehr als 1000 Schulen haben deren Angebot bereits genutzt. Weitere Informationen: www.deutsche-schulakademie.de

Manche Schulen haben nur noch eine Notverwaltung, ein Lehrer muss die Schule dort kommissarisch führen, oder der Leiter einer Nachbarschule übernimmt vorübergehend beide Stellen. Man wurstelt sich durch. In Baden-Württemberg bewerben sich bei Ausschreibungen von Grundschulen, Hauptschulen und Werkrealschulen im Schnitt gerade mal 1,4 Kandidaten pro Stelle. Ausgewählt wird oft nicht der Beste – sondern der Einzige. Selbst in Bayern lehnten viele Kollegen inzwischen dankend ab, sagt Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Die Argumente seien immer gleich: zu wenig Wertschätzung, zu viel Stress.

"Eine Schülerschaft, die immer heterogener wird, und einen zunehmenden Anteil von Eltern, denen alles egal ist." Dazu eine "chaotische, sprunghafte Bildungspolitik", die eine Schulleitung umsetzen müsse, ob sie ihr gefällt oder nicht. "Man hockt zwischen allen Stühlen", sagt Kraus, der selbst lange ein Gymnasium führte. Warum, fragen ihn die Kollegen, sollten sie sich das bitte schön antun? "Für 200 bis 400 Euro mehr im Monat?" Es geht auch ums Geld, natürlich. Zwar werden Schulleiter an Gymnasien vergleichsweise gut bezahlt, nicht aber die an Grundschulen. Manchen Rektoren kleiner Grundschulen bleiben am Ende kaum 100 Euro netto mehr als den Kollegen, die nur unterrichten, dafür aber den ganzen Stress nicht haben. Die Lehrergewerkschaften fordern seit Jahren mehr Geld für Leitungsfunktionen. Immerhin wollen einige Länder jetzt nachbessern und wenigstens den am schlechtesten gestellten Schulleitern mehr bezahlen. In NRW hat eine eigens eingesetzte Kommission dem Landtag vor ein paar Monaten sogar einen ganzen Maßnahmenkatalog empfohlen, um das Amt des Schulleiters attraktiver zu machen.

Aller Anfang ist schwer

Heinrich Brinker ist vor gut 20 Jahren an seine Schule in Schüttorf gekommen. Davor war er 13 Jahre lang Lehrer in Hamburg und unterrichtete fünfte und sechste Klassen in Bio, Physik und katholischer Religion. Schon damals wollte er gern Schulleiter werden. Klar, er habe "mitgestalten und mitentscheiden" wollen, sagt er. Da schwang auch Unzufriedenheit mit. "Viele von uns hatten damals das Idealbild einer Schule, das wir einfach nicht umsetzen konnten." Nach dem Tod des Schwiegervaters zog er nach Schüttorf. Seine Frau stieg dort in den väterlichen Tischlerbetrieb ein. Und in dem 12.000-Einwohner-Städtchen nahe der holländischen Grenze war die Stelle des Schulleiters frei. Am 1. August 1995 bezog Brinker sein Büro und fragte sich: "Was mache ich hier eigentlich?" Es war wie bei fast allen Lehrern, die plötzlich Schulleiter werden: Er hatte keine besondere Ausbildung, es war "Training on the Job". Was ist wie zu regeln, was nicht?

Gerade an kleinen Schulen fühlen sich Schulleiter schnell für alles zuständig, selbst für das verstopfte Klo. Brinker sah sich nicht als Mann für den Pümpel, sondern für das Programm. Er wollte sich aufs Wesentliche konzentrieren, Entscheidungen treffen. Beliebt machte ihn das nicht. Ob er "nur noch Schulleiter" sein wolle oder auch Kollege, wurde er anfangs gefragt. "Ich wollte vieles verändern, und das zu schnell", erzählt er heute.

Ein Zaun mit Stacheldraht, der das Wäldchen hinter der Schule umgab, musste sofort weg. Genauso das "Gefängnis", ein schmaler Raum neben dem Rektorat, in den seine Vorgänger Kinder gesetzt hatten, die den Unterricht störten. Das war noch das Leichteste. Er wollte aber die Perspektive der Lehrer ändern. "Die Schüler standen mir zu wenig im Mittelpunkt", sagt er.

Nach einiger Zeit bat er seine Kollegen um eine Bewertung. Sie sollten auf grünen Karten die Veränderungen notieren, die sie gut fanden, und auf roten die, die sie schlecht fanden. "Ich bekam vier grüne, aber fast einen Meter rote Karten", erzählt Brinker. "Darauf stand beispielsweise: Trifft allein Entscheidungen." Die klassische Chefnummer kam nicht gut an. "Ich musste erst die Kollegen überzeugen, dass wir Veränderung brauchten, später die Eltern. Nur die Kinder brauchte man nicht zu überzeugen." Sie waren seine Verbündeten von Anfang an.

Angebliche Schwächen zu Stärken machen

Eine Schule, sagt Brinker, könne behäbig arbeiten wie eine Behörde. Oder beweglich wie ein Fußballmannschaft, die sich blitzschnell auf neue Spielsituationen einstellt. Der Führungsstil der Schulleitung wirkt sich auf die gesamte Organisation aus. Gebraucht würden darum nicht nur mehr, sondern auch besser ausgebildete Schulleiter, sagt Schulakademie-Leiter Pant. Dass viele Schulen in Deutschland im Althergebrachten verharrten, das liege auch daran, dass die Direktoren oft "relativ zufällig" ausgewählt würden. Früher waren es vielleicht Leute, die den Stundenplan organisierten, die Abiturrede hielten und ansonsten jeden Morgen ihr Auto auf dem besten Parkplatz vor der Schule parken durften. Heute sind sie Manager und Motivator und "Gatekeeper für den Aufbau von Schulen als lernende Organisationen", sagt Pant. Ohne einen gut ausgebildeten und fähigen Schulleiter kann sich eine Schule nicht wandeln.

Die Grundschule St. Nicolai in Westerland auf Sylt beispielsweise – in diesem Jahr ebenfalls beim Deutschen Schulpreis geehrt – hat einen Chef mit Doppelqualifikation. Horst-Peter Feldt ist Sonderpädagoge, und er hat auch Schulmanagement und Qualitätsentwicklung studiert. Das half ihm durch die schwierige Anfangsphase.
Damals wurde er als Konrektor einer Förderschule zugleich Chef der benachbarten Grundschule, die als "Problemschule" galt und vorwiegend von den weniger wohlhabenden Inselkindern besucht wurde. Er sollte beide Schulen fusionieren. 

Er habe sich und dem neuen Kollegium damals drei Fragen gestellt, sagt er. Welche Stärken haben wir? Was wollen wir erreichen? Welche außerschulischen Partner haben wir? Andere Schulen auf Sylt locken den Nachwuchs mit Arbeitsgemeinschaften für Reiten und Golfen. Die St. Nicolai-Schule lockt mit Vielfalt. "Wir müssen offensiv damit umgehen, wen wir bei uns haben – Rothaarige, Schwarzhaarige und Blauhaarige", sagt er. "Und klarmachen: Das ist gut so." Von den Schulen, da sind sich Bildungsexperten einig, werde immer mehr Selbstständigkeit verlangt. Immer größere Teile ihres Budgets können sie selbst verwalten.

Management wie in einer mittelständischen Firma

Sie müssten daher zunehmend wie ein mittelständisches Unternehmen geführt werden, auch wenn sie längst nicht alle Freiheiten eines Unternehmens haben und beispielsweise keine Lehrer entlassen dürfen. Direktoren könnten der Schule ein Profil geben, sie etwa zur Ganztagsschule oder Gemeinschaftsschule umbauen; sie könnten Kontakte zu Firmen knüpfen oder um Sponsoren werben; vor allem aber müssen sie ihre Mitarbeiter führen, sie motivieren, ihren Einsatz planen, neue Lehrer einstellen oder zumindest dabei mitreden. Ein guter Schulleiter, sagt Lehrerverbands-Chef Kraus, müsse der "oberste Kommunikator" der Schule sein.

In so einer Rolle sieht Heinrich Brinker auch sich und seine Stellvertreterin. Er sagt: Schulleiter müssten Impulsgeber sein, "die 10 bis 15 Jahre vorausdenken". Sie brauchten ein Ziel und eine Idee, wie sie da hinkommen. Und sie müssten ihr Kollegium als Team begreifen. Seine Schule hat 20 Lehrer und 270 Kinder, darunter 80 aus Migrantenfamilien, vor allem türkischen und russlanddeutschen. Inklusionskinder, Flüchtlingskinder, hochbegabte Kinder, alles da.

Brinkers wichtigste Verbündete ist Heike Draber, 43, seit 2003 die Konrektorin. Sie hält viel von Reformpädagogik, will Schule ganz neu denken und kümmert sich ums Kerngeschäft, die Veränderung des Unterrichts. Gemeinsam gründeten sie eine Steuerungsgruppe, die sich monatlich traf, Ziele festlegte und, ganz wichtig, für alle Lehrer offen war.

Mit Herzblut im Klassenzimmer

An anderen Schulen seien seine Ideen von der Schulleitung abgeschmettert worden, sagt Referendar Malte Warnken, oft mit dem Argument: "Das wollen die Eltern nicht." Hier dagegen fühlt er sich beflügelt.
Er schlug vor, Schüler zu Streitschlichtern auszubilden – und durfte sofort loslegen. Der Referendar, der sich sonst immer "ganz unten in der Hierarchie" fühlte, schwärmt von "echten Freiräumen" und der Ermutigung durch die Schulleitung. "Keiner verlässt die Schule nach dem Unterricht, jeder macht noch etwas zusätzlich."

Lena Hornbostel beispielsweise, Lehrerin in der 2 a, traf sich während der Sommerferien zwei Wochen lang mit ihren Kolleginnen in der Schule, um Materialien für den Unterricht vorzubereiten, freiwillig. Man sei "wirklich ein Team", sagt sie. Die junge Lehrerin und ihre Kolleginnen besuchen sich gegenseitig im Unterricht, sie hospitieren, befeuert von ihrer Schulleitung, an Partnerschulen in Cardiff, Aalborg, Budapest oder Mordelles in Frankreich. Sie sind voller Begeisterung für die Möglichkeiten ihres Berufs. "Nur wenn man mit Herzblut an eine Sache rangeht, macht man einen guten Job", sagt Konrektorin Draber.

Im Laufe der Jahre haben sie ihrer Schule ein neues Profil gegeben. Sie haben ein Konzept entwickelt, das allen mehr zumutet, auch den Kindern. Die sollen aus eigenem Interesse lernen statt mit Druck. Mit jedem Kind suchen die Lehrer nach einem persönlichen "Lernweg". Die Eltern, sagt Draber, seien anfangs meist skeptisch. "Bis sie verstehen, dass wir ihren Kindern helfen wollen." Dann machen selbst die mit, die nur als Telefonnummer existierten, die "Handy-Eltern".

Eine Schule zu verändern, das dauere, sagt Heinrich Brinker. Nicht Monate, sondern Jahre oder Jahrzehnte. Den Job aber würde er immer wieder machen. "Die Kinder geben einem so viel zurück." Seine 20 Jahre als Rektor hätten ihn gelehrt, geduldiger zu werden – und die Freiräume zu nutzen. Ein Schulleiter könne gestalten. Heute sogar noch besser als früher.

Von der Politik erwartet er nur zwei Dinge. "Dass die Bezahlung stimmt. Und dass die uns machen lassen."

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