Edi Hitzberger Von einem, der auszog, das Einfache zu finden

  • von Christoph Wirtz
Schluss mit weicher Lutschkost und fadem Filet. "Ich will beißen, kauen, ein bitteres Kraut schmecken", sagt Edi Hitzberger und demonstriert in Kitzbühel, wie einfache Bauernküche und Kochkunst harmonieren.

Frühmorgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen über den Pengelstein kriechen und der Tau auf den Almen glitzert, zieht's den Hitzberger Edi hinaus zu den wilden Kräutern am Berg. Hoch über ihm streift ein Steinadler majestätisch um die Alpengipfel, eine Libelle steht wie reglos in der Luft, Kirchenglocken hallen durchs stille Tal. Der Edi hat ein Weidenkörblein dabei und Krokodillederstiefel an. Und ein Doserl Koffeinbrause in der Hosentasche, so früh am Morgen. Manchmal muss er sich beim Kräutersammeln blitzartig ducken, dann pfeift ein Golfball haarscharf über ihn hinweg.

Eduard Hitzberger, 53, ist ein ziemlich untypischer Kräuterzausel. Hauptamtlich ist er Koch, Superkoch genau genommen. Dreimal wurde er zum Koch des Jahres in der Schweiz gewählt, über seinem Herd im Engadin funkelten zwei Sterne. "Und trotzdem hatte ich irgendwann die Schnauze voll", sagt er. "Ich hatte keine Lust mehr, für die Tester zu kochen, konnte keine Jakobsmuscheln und keine Trüffel mehr sehen!" Konsequent gab er vor gut einem Jahr den Löffel ab, setzte sich auf die Harley und mied die Sternelokale, wo er konnte.

Als großer Koch hat es Hitzberger natürlich nicht lange ohne Herd ausgehalten. Und genau darum kurvt er nun an diesem schönen Spätsommermorgen mit einem Elektrokart über den perfekt gepflegten Rasen eines Golfplatzes bei Kitzbühel und rupft an dessen Rändern enthusiastisch Schafgarbe aus. Im A-Rosa-Resort gegenüber der Streif hat er seit einigen Wochen eine neue Wirkungsstätte gefunden. Und den Ort, an dem er sich einen lange gehegten Traum erfüllen will: die vergessenen Gerichte der kargen Bergbauernküche mit der großen Kochkunst zu versöhnen.

Arme-Leute-Menü

Auf der Karte steht: Arme-Leute-Menü. "Serviert werden nur einfachste und billige Produkte. Rein saisonal, streng regional." Statt Filet werden nur die vermeintlich unedlen Stücke vom Tier verarbeitet. Und natürlich Wildkräuter. Am 4. Loch wächst hinter dem Green Spitzwegerich, beim Abschlag zum 6. Holunder und Taubnessel, am Bachlauf dazwischen Wasserkresse. Tannenschösslinge sammelt Hitzberger beim Clubhaus, irgendwo weiter hinten hat er auch noch eine einzelne Holunderblüte entdeckt. "Die hat so ein geiles Aroma, die mache ich Ihnen zum Dessert."

Auch wenn kräutersammelnde Küchenchefs in Zeiten fixer Gastrozulieferer die Ausnahme sein dürften - die Besinnung auf kulinarische Traditionen und regionale Besonderheiten erfreut sich zurzeit großer Popularität in der Topgastronomie. Leider bleibt es zumeist beim guten Willen, "Himmel und Erde von der Gänsestopfleber" ist so authentisch wie der Grand Canyon als Fototapete. Und ausnahmslos alle Spitzenköche schrecken vor dem völligen Verzicht auf Luxusviktualien zurück. Niemand will verlifestylemagazinierte Gäste und statusfixierte Restauranttester unnötig verschrecken. Auch Hitzberger ist Profi genug, um mehrgleisig zu fahren. In seinem Arme-Leute-Menü geht er jedoch deutlich radikaler vor als alle seine Kollegen.

Er schreckt vor saurer Milchsuppe oder Kuttelsalat nicht zurück, belegt Sauerteigbrot mit weißem Speck, confiert Entenhälse in Fett, füllt Ravioli aus Johannisbrotmehl mit Nesseln und überzieht sie mit Sauerrahm. Statt Rinderfilet tischt er Schweinebauch und gepökelte Bäckchen auf, statt Kotelett Hackbraten, Kalbskopf oder Zunge, im Winter wird er Sauerbraten vom Pferd auf die Karte setzen. Eigentlich wäre bei Hitzberger gastronomische Todessehnsucht zu diagnostizieren.

Aber für den Mann gelten eben keine normalen Maßstäbe. Er ist ein außergewöhnlich guter und kluger Koch. Sein Hackbraten ist mit heimischen Steinpilzen veredelt, der Schweinebauch hat 48 Stunden im Vakuum gegart, die winzigen Bohnenkerne der Gemüsebeilage wurden erst einzeln enthäutet und anschließend nochmals halbiert. So wird aus dumpfer Rülpskost für kalte Winterabende plötzlich allerfeinste Hochküche. "Wo steht denn geschrieben, dass man Schweinebraten nur als fetttriefende Bombe auf den Teller geklatscht servieren darf?" Oder anders: Für getrüffelte Pasta braucht man einen Hobel. Für gute Bratkartoffeln einen Meisterkoch.

Resteverwertung

Eine der ärgerlichsten Folgen der klassischen Hochküche ist die Unterscheidung zwischen feinen und weniger feinen Partien beim Tier. Für Hitzberger ist "Resteverwertung eine moralische Verpflichtung". Was aber sind das für Reste, die fast zwei Drittel vom Ganzen ausmachen?

Josef Huber ist Kitzbüheler Metzger in der sechsten Generation. Er genießt Hitzbergers volles Vertrauen. Fragt man ihn, was die unedlen Teile seien, so antwortet er wie aus der Pistole geschossen: "Haut, Knochen, Augen." Der Rest sei edel. "Das Problem ist bloß: Da kann kaum einer heute noch was mit anfangen." Filet braten und dafür 25 Euro kassieren ist keine Kunst, eine gefüllte Kalbsbrust servieren schon. "Seit wir die für die Köche zurechtschneiden, füllen und wickeln, ist die Nachfrage allerdings wieder etwas besser." Insgesamt aber verkauft Huber der Gastronomie dennoch "rund 70 Prozent Filet und Rücken - leicht. Und maximal 30 Prozent vom Rest - schwer."

Es ist in Kitzbühel heute deutlich leichter, eine gebratene Jakobsmuschel zu bekommen als eine sauber geschmorte Kalbshaxe. Und Eduard Hitzberger ist in seinem Luxusschuppen so ziemlich der Einzige im Kirchspiel, der noch Kuttelsuppe kocht. Es gibt einen Fachbegriff für diesen Zustand: Dekadenz - Niedergang durch Verfeinerung.

Wenn man sich nach den Gründen für das Verschwinden der traditionellen Gerichte von den Speisekarten umsieht, so fällt neben der enormen Arbeitsintensität und dem Mangel an Notwendigkeit ein weiterer Aspekt auf: die Entfremdung vom Lebensmittel. "Das Tolle am Filet ist, dass es durch nichts an das Tier erinnert, von dem es stammt." Wie anders bei Kalbskopf, Zunge oder Schweinsfuß - da graust es den Gourmet beim Hummersüppchen!

Großartige Abfallprodukte

Die Infantilisierung der Spitzenküche schreitet munter voran: Lutschküche ist gefragt - bunt, lauwarm, weich. Für Hitzberger ein Horror. "Ich will dieses Süßliche, Breiige nicht mehr. Ich will wieder beißen, kauen, ein bitteres Kraut schmecken." Hat sich der Mann einfach überfressen an feinsten Produkten? Ist er gelangweilt vom Luxus und auf der Suche nach dem Armutskick für teuer Geld? "Nein", sagt er und guckt entschieden: "Wenn es aber seit Jahrtausenden zum ersten Mal nicht mehr unsere Aufgabe als Köche ist, die Hungrigen satt, sondern die Satten hungrig zu machen, dann stimmt was nicht. Dann müssen wir neu nachdenken."

Zum Finale des Arme-Leute-Menüs gibt es ein Parfait von der Wälderschokolade mit Essigkirschen. Wälderschokolade? "Das ist ein Abfallprodukt der Käseherstellung - der karamellisierte Milchzucker am Boden des Kupferkessels nach dem Verdampfen der Molke. Das haben früher die Kinder auf der Alm gegessen, sonst hatten sie ja nichts Süßes." Es schmeckt großartig. "Natürlich schmeckt das großartig! Es ist doch so: Wer wenig hat, der will aus dem Geringsten das Beste machen." Und wer viel hat, der hat die moralische Pflicht, nicht anders zu handeln.

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