Manchmal kann man machen, was man will, und es klappt trotzdem. Immer wenn Olaf Schnelle dachte, jetzt geht nichts mehr, dann kam von irgendwo ein Lichtlein her. Numero eins: Ralf Hiener, ein leidenschaftlicher Koch. Heute Freund und Geschäftspartner. Numero zwei: eine äußerst engagierte Dame vom Arbeitsamt Stralsund mit einer Idee, auf die Olaf Schnelle nie im Leben gekommen wäre. Die neu erwachte Lust der Deutschen nach Produkten, die sowohl bio wie auch sehr ausgesucht sind.
Ausgesucht: Das passt im Wortsinn auf die Herren Schnelle und Hiener. Die zwei Männer um die 40, der eine aus Erfurt, der andere ein Schwarzwälder, führen seit 2000 in Boltenhagen im Vorpommerschen ein Unternehmen mit dem seltsamen Namen "Essbare Landschaften". Was ihre fünf Hektar Land verlässt, ist zu fast 100 Prozent mit der Hand geerntet. Immer wird nur das Zarteste ausgesucht. Weil es das Feinste ist. Und weil das - und nur das - am besten schmeckt. Und weil der Ruf schnell ruiniert ist. Schneller jedenfalls, als ein Kraut wachsen könnte.
Olaf Schnelle war der mit der Idee: Der Landschaftsgärtner wollte nach seinem Studium überall in Deutschland private Ziergärten anlegen. Hier sollte wachsen, was die allermeisten "Unkraut" nennen würden: Giersch zum Beispiel oder Löwenzahn. Aber Schnelle sagt: "Unkraut gibt es nicht." Und: "Kraut ist alles, was nicht holzt." Also fast alles, was wild und fröhlich im Wald, auf Wiesen und in Kleingärten vor sich hin wächst. Fast jedes Kraut ist zu gebrauchen, fast jedes hat seinen Sinn. Das wusste Schnelle spätestens seit seiner Diplomarbeit, in der er über 4000 Pflanzen auflistete und zeigte, wie vielfältig sich jede einzelne verwenden lässt. Viertausendmal Kraut. Nicht viertausendmal Unkraut.
Leider wollte die Sache mit den Ziergärten nicht so recht laufen. Die meisten der potenziellen Kunden wollten nicht so viel "Unkraut" direkt vor ihrer Nase. Also setzte Schnelle nun ganz und gar auf "Unkraut". Und wollte auch noch davon leben. Das war die Geburtsstunde der "Essbaren Landschaften".
Als Schnelle noch allein arbeitete, da ging er in die Wälder und sammelte, was er finden konnte. Er wusste, was wo wächst und wann. Was der Sammler fand, das versuchte er an interessierte Köche zu verkaufen - die pommersche Küste war gerade dabei, kulinarisch zu erwachen. Tagsüber sammelte Schnelle, am Nachmittag fuhr er seine Unkräuter mit dem Fahrrad zu seinen Kunden. Das war Mitte der 90er Jahre. Und es war abzusehen, dass es so nicht lange weitergehen konnte. Schnelle strampelte sich ab, aber er kam nicht wirklich voran. Und das Haus, "diese wunderschöne Ruine", die er für sich und seine Familie gekauft hatte, musste auch noch restauriert werden. "Ich war Idealist, und ich wollte die Welt retten", sagt Schnelle. Die Frage war nur, ob die Welt sich von ihm - und seinen Kräutern - retten lassen wollte.
Sie wollte. Und wie sie wollte. Heute umfasst das Sortiment an die 100 Pflanzen. Nicht nur Kräuter, sondern auch Salate und Blumen wie Dahlien und Eisbegonien, Baldrian, Borretsch, Fette Henne, Hirtentäschel, Magenta-Melde, Taubnessel, Vogelmiere, Gundermann, Pimpinelle, Fichtensprossen, Ysop und Waldmeister. Und Epazote, eine Pflanze, die aus Mexiko stammt. Roh schmecken die Blätter nach Terpentin, werden sie gekocht, entwickeln sie ein Aroma aus Zitrus und Thymian. In Mexiko ein gern genommenes Mittel gegen Blähungen.
Kürzlich endete die Ernte für einen Großauftrag. Ein amerikanischer Caterer hatte 250 000 Blüten bestellt, allesamt essbar, versteht sich. Die Blüten der Eisbegonie schmecken sauer mit einem schönen Biss, die Blüten der Dahlien schmücken nur. Ringelblume, Kapuzinerkresse, Lavendel und Dill ergaben am Ende das, was der Caterer wollte: Flower-Power.
Blumen und ihre Blüten sind schön, aber nur ein Zubrot. Das Hauptgeschäft machen die Kräuter aus. Außerdem gehen jedes Jahr zwischen drei und zehn Tonnen Bärlauch an industrielle Weiterverarbeiter. Natürlich auch das alles von Hand gepflückt, sortiert und eingetütet. Ein Kilo Kräuter kostet zwischen 15 und 120 Euro. Waldsauerklee ist am teuersten, weil er so "extrem leicht" ist. Und sehr schwer zu finden. Man muss halt wissen, wo man suchen muss. Und Schnelle weiß wie wahrscheinlich kein Zweiter in Deutschland, welche Bedingungen Kräuter brauchen, um zu gedeihen, und was man mit ihnen machen kann. "Ich bin hartnäckig", sagt Schnelle. Gegen ihn ist noch kein Kraut gewachsen.
Seit Lichtlein Numero zwei, die Dame vom Arbeitsamt Stralsund, das Leben Olaf Schnelles hell erleuchtet hat, sind die meisten seiner Wildkräuter nicht mehr ganz so wild. 2000 wurde der Sammler sesshaft und baut seitdem auf fünf Hektar an. Und das kam so: Die für Arbeitsförderung zuständige Dame vom Arbeitsamt Stralsund hatte im NDR einen dreiminütigen Film über Schnelle gesehen. Sie war so begeistert, dass sie ihn am nächsten Tag anrief und fragte, ob Schnelle sich nicht vorstellen könne, ein paar Leute einzustellen. Das Amt übernähme alle anfallenden Kosten, wenn Schnelle die Arbeitsplätze schaffte.
Weil Schnelle es längst leid war, sich die Füße wund zu laufen, und ihm klar war, dass eine solche Gelegenheit nie wieder käme, pachtete er Land rund um ein verfallendes Gutshaus im Dorf Boltenhagen, 20 Kilometer westlich von Greifswald. Es dauerte keine zwei Wochen, da hatten die neuen Bewohner der Ruine ihren Namen auch schon weg: "Schlossbesitzer" werden sie nun von den meisten der Dörfler genannt. Und das ist nicht nett gemeint. "Heimat, Arbeit, Familie" - die NPD hat in Boltenhagen einen guten Leumund, komische Kräutler grüßt hier kaum einer. Dabei sind Schnelle und Hiener die Einzigen, die Arbeit nach Boltenhagen gebracht haben.
Ohne seinen Mitgeschäftsführer Ralf Hiener wäre das Projekt "Essbare Landschaften" allerdings kaum so weit gekommen. Hiener war es, der die Tür zu dem, was ein Erfolg wurde, aufstieß. Den Schwarzwälder hatte die Nachwende-Euphorie an die Küste gespült. Er war damals gerade 27 Jahre alt, aber schon Küchenchef in einem Nobelhotel, er hatte auch in der Schweiz fein und edel gekocht - und langweilte sich. Da hörte er von einer Seniorenresidenz für Gutbetuchte auf dem Darß, der ein Koch fehlte. Er heuerte dort an, führte drei Jahre die Küche des "Haferland", das ein Wellnesshotel geworden war, und machte sich dann selbstständig. "Herrliche Zeiten", sagt er, "alle dachten, alles sei möglich." Sieben Tage die Woche stand er nun in der Küche des eigenen "Weißen Hirschen" und schuftete, um zu erschaffen, was ihm vorschwebte: "gnadenlose Regionalküche".
Immer war er auf der Suche nach dem Besten, was die Region hergibt, immer weiter sollte es gehen, immer besser wollte er werden. Im Herbst 98 schneite ihm ein Brief von Schnelle, dem Kräutermann, ins Haus. "Das war das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte", sagt Hiener, "das war das Tüpfelchen auf dem i." Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis er die ersten Kräuter in Händen hielt - und total begeistert war.
Der Durchbruch kam im März 1999. Hiener kochte zusammen mit anderen Köchen aus der Region im Hotel "Ich weiß ein Haus am See" in Krakow. Es war der 15. März 1999; an das Datum erinnert sich Hiener noch heute, als wäre es der Geburtstag seines Sohnes. Zwei Körbe voller Kresse, Wildem Kerbel und Giersch, insgesamt 1,5 Kilogramm, die für 40 Personen reichen sollten, hatte er mitgebracht. Nach seinem Salat erlebte Hiener, wovon jeder Koch träumt. "Es war der Wahnsinn", sagt Hiener, "Standing Ovations für einen Salat. Das gab's noch nie." Die Kollegen waren hin und weg von dem Unkraut-Salat. Seitdem bestellten sie regelmäßig, die "Essbaren Landschaften" blühten auf - und Hiener war so nachhaltig begeistert, dass er ein Jahr später endgültig in den Betrieb einstieg.
Der Salat aus Wildkräutern ist immer noch der Renner des Sortiments, man kann ihn fertig gemischt ordern. Spätestens am nächsten Tag erhält ihn der Kunde. Das Dumme ist: Reich wird man von so viel Mühe nicht. Denn wenn nichts wächst und nichts geerntet wird, und das ist immerhin fünf Monate im Jahr der Fall, dann kommt auch nichts in die Kasse. Die Kosten aber fallen weiterhin an.
Jetzt soll alles besser werden: nach dem Prinzip "Burger King". Schnelle und Hiener wollen auf Franchising setzen. Warum sollte nicht irgendwo im Süden der Republik, wo mehr Geld locker sitzt und die Leute wissen, was gutes Essen ist, das Kräutergeschäft mindestens ebenso gut laufen? Ein Berater ist engagiert, was fehlt, sind die Franchisenehmer. Das wäre die Erfüllung langer Jahre harter Arbeit: Geld verdienen, wenn andere arbeiten.
Aber erst einmal sind sie selbst dran: Ende Oktober steht die Apfelernte an. Aus 3000 Liter Apfelsaft, die aus den Früchten von 50 Apfelbäumen gepresst werden, kocht Hiener 30 verschiedene Gelees. Apfelgelees mit dem Aroma von Wildkräutern: mit Eberesche, herb im Geschmack und leuchtend rot. Apfelgelee mit Engelwurz, mit einem Geschmack nach Sellerie, lauwarm perfekt zu Geflügel- oder Kalbsleber. Apfelgelee mit Malven- und Eisbegonienblüten, kräftig nach Apfel schmeckend. Apfelgelee mit Ysop, das ganz leicht nach Salbei, Thymian und Bohnenkraut schmeckt. "Unser Wintergeschäft", sagt Hiener. "Damit wir überhaupt über die Runden kommen."
Den Plan, ihr "Schloss" zu renovieren und zum Hauptsitz ihrer Firma zu machen, mussten Schnelle und Hiener begraben. Die hohen Auflagen des Denkmalschutzes machen jede umfassende Erneuerung unbezahlbar. Jetzt haben sie sich erst einmal einen modernen Kleintrecker gekauft, damit die Arbeit auf den Feldern etwas leichter wird.
Die große Frage lautet: Wie soll es weitergehen? So wie bisher jedenfalls nicht; die fünf Hektar Kräutergarten ernähren die Menschen, die ihn hegen, mehr schlecht als recht. Zeit zum Überlegen haben sie bald: Der Winter kommt. Und dagegen ist auch in Boltenhagen noch kein Kraut gewachsen.