Küchenchef Dan Barber hat die Gastrowelt auf den Kopf gestellt: Er gilt als "Kochphilosoph", als "Prophet des Bodens". Auf unzähligen Bühnen hat er die Geschichte erzählt, dass man nicht wählen muss, zwischen einer guten Mahlzeit und einer nachhaltigen Landwirtschaft. Das gehe Hand in Hand, ist seine Ansicht. Wenn alle Köche mit Landwirten zusammenarbeiten würden, sagt er, könnte man so leckere Gerichte kreieren, dass die Amerikaner keine Massentierhaltung mehr betreiben würden.
Barbers Botschaft hat ihm Ruhm gebracht und Verehrung zahlreicher bekannter Persönlichkeiten, von Ruth Reichel bis zu den Obamas. 2014 wurde er mit einer Folge der Netflix Serie "Chef's Table" international berühmt. Dabei sah es schon damals hinter den Kulissen ganz anders aus, wie eine ausführliche Reportage auf "Eater" zeigt. Die Berichte umfassen mehr als 19 Monaten Recherche, Gespräche mit mehr als 70 Quellen und die Durchsicht von Hunderten von Seiten an Dokumenten, E-Mails und Fotos. Im Mittelpunkt dieser Reportage stehen die Arbeitsbedingungen und die Praxis des Geschichtenerzählens.
Das "Stone Barns Center for Food and Agriculture" ist ein gemeinnütziger Bauernhof und Bildungszentrum, das 2004 auf einem ehemaligen Milchviehbetrieb, etwa 50 Kilometer nördlich von New York City, eröffnet wurde. Daran angeschlossen ist ein Restaurant. Hinter dem Konzept steht die Rockefeller Familie. Für die Leitung des Restaurants haben sie Dan Barber ausgewählt, der zu dem Zeitpunkt das "Blue Hill" in Manhattan führte.
Es dauerte nicht lange und Barber wurde in New York und über die Stadtgrenzen hinaus zur Ikone der bäuerlichen Küche, als das Verarbeiten von ganzen Tieren und das Fermentieren von Kohlrabi noch eine Randerscheinung in der Gastronomie waren. Im "Blue Hill at Stone Barns" wollte er den "Farm-to-table"-Ansatz, also vom Feld auf den Teller, auf die Spitze treiben: die Landwirte sollen mit den Köchen zusammenarbeiten, um den Geschmack der Produkte zu optimieren. Die Köche sollen das kochen, was am besten für die Ökologie der lokalen Betriebe ist.
Druck, Ausbeutung, Missbrauch
Barber geht mit seinem Konzept durch die Decke. Er erhält zwei Michelin-Sterne, er erkämpft sich einen Platz in den oberen Rängen der "World's 50 Best Restaurants". Die betuchtesten und berühmtesten Menschen Leute der Welt kehren bei ihm ein. Ein Abendessen kostet im Blue Hill derzeit zwischen 348 und 398 US-Dollar (umgerechnet etwa zwischen 340 und 390 Euro).
Jeder Rettich, jede Karotte auf Barbers Teller erzählt eine Geschichte, davon wie sie produziert wird, wie sie die Art unserer Landwirtschaft und die unseres Lebens verbessert. Der Küchenchef setzt alles daran, das Lebensmittelsystem zu verbessern. Leider erstreckt sich dieser Ehrgeiz nicht auf den Bereich, worüber er die meiste Kontrolle hat, wie "Eater" berichtet: auf die Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Ehemalige Köch:innen, Kellner:innen, Manager:innen und Praktikant:innen sagen gegenüber "Eater", dass die Küchenkultur im "Blue Hill at Stone Barns" von unnachgiebigem Druck geprägt ist, der mit 70-Stunden-Wochen und Mindestlöhnen einhergeht. Zahlreiche ehemalige Mitarbeiter beschreiben, dass Barber oder andere hochrangige Blue Hill-Führungskräfte sie selbst bei kleinen Fehlern anschrieen oder öffentlich demütigten.
Ein Mitarbeiter spricht sogar von sexuellem Missbrauch durch einen Küchenangestellten. Warum erträgt man so etwas? Viele dieser ehemaligen Mitarbeiter haben an die Mission des Restaurants geglaubt. Doch schnell wurde ihnen klar, dass Barber nur eine Geschichte erzählte, die zu schön ist, um wahr zu sein. Viele Erzählungen rund um die Lebensmittel, die serviert wurden, seien irreführend gewesen, die Mitarbeiter:innen haben sich unwohl gefühlt, weil sie trotzdem Barbers Geschichte erzählen mussten. Nicht alle Produkte wurden so lokal bezogen, wie es das Konzept vorsieht. Manchmal drückte man einfach ein Auge zu. Man verschleierte ja nichts, man nahm nur eine Abkürzung, so der Tenor.
"Es gibt nur Geschichten"
Dan Barber spricht, konfrontiert zu den Vorwürfen, derweil nur über eine Sprecherin. Im Podcast "Time Sensitive" sagte Barber aber: "Ich muss Geld auftreiben, also bin ich da draußen, um Spenden zu sammeln, und das ist Storytelling. Das ist alles, was es gibt. Ich bin gerade damit fertig geworden, über Fakten zu erzählen, aber Tatsache ist, dass wir in einer Welt nach der Wahrheit leben, nicht wahr? Fakten spielen keine Rolle. Es gibt nur Geschichten, das ist alles. Und das ist es, was ich tue."
Quellen: Eater