"Der reine Horror", sagt Martina Reinelt, 42, aus Lohmar bei Köln, "es war der reine Horror." Als ihr Sohn Bennet gerade ein halbes Jahr alt war, erkrankte er schwer an Neurodermitis. Bennet vertrug keinen Roggen, keinen Weizen, weder Dinkel noch Hirse. Keinen Reis. Weder Vanille noch Kamille. Keine Milchprodukte. Und Wurst durfte er natürlich auch nicht. Ein Martyrium. Irgendwann aß der Junge kaum noch, an seinem dritten Geburtstag wurde Bennet ins Krankenhaus eingeliefert: Lebensgefahr.
Keine allergischen Reaktionen mehr
Aber dann, es war der 6. Dezember 2008, kam ein Paket von Schlachter Rudolf Tauscher aus Mecklenburg-Vorpommern. Für Martina Reinelt "das schönste Nikolaus-Geschenk meines Lebens". Der Inhalt: zehn grobe Leberwürste, zehn Mettwürste, zehn Bratwürste. "Das roch so lecker, den Geruch habe ich immer noch in der Nase."
Die Wurst des Schlachters aus dem Dorf Boddin bei Schwerin war nicht nur die erste Wurst im Leben von Bennet, sie war auch der Anfang vom Ende seiner Leiden. Keine allergischen Reaktionen, nur Geschmack, Genuss und, endlich, Lust am Essen. Inzwischen verträgt der Fünfjährige selbst gebackenes Brot und Pfannkuchen. Es geht aufwärts.
"Bei mir landen immer die schwersten Fälle", sagt Rudolf Tauscher, 56, "aber das macht nichts. Herausforderungen spornen mich an." Tauscher, der Mann hinter der Allergiker-Wurst, war nicht immer Schlachter. In der DDR war er noch Gartenbauingenieur und beschäftigte sich mit Torf- und Seeschlamm. Seinen Meister machte er erst 1993.
"Ich liebe Experimente"
Eines Tages, vor Jahren, kamen Allergiker aus Schwerin zu ihm und fragten, ob er nicht eine Wurst herstellen könne, die sie vertrügen. Das Rezept sei fertig, die Wurst müsse nur noch gemacht werden. Alle anderen Schlachter hätten abgewinkt, ob Tauscher nicht helfen wolle. "Ich liebe Experimente", sagt der. Natürlich wollte er. So fing es an.
Wenn heute ein schwerer Fall anruft, lässt sich Tauscher sämtliche unverträglichen Stoffe aufzählen. Dann überlegt er, was genommen werden könnte, damit die Wurst trotzdem schmeckt. Manchmal genügt es, statt Knoblauch Zwiebeln zu nehmen oder statt Roter Bete Paprika. Aber meistens ist es komplizierter.
Tauscher stellt Gewürzmischungen zusammen, schlägt Ersatzstoffe vor, schreibt schließlich ein Rezept. Das schickt er zurück, damit der Kunde überprüfen kann, dass ja nichts übersehen wurde und Unverträglichkeiten ausgeschlossen sind. Eine Rückversicherung, für alle Fälle.
"Und das ist auch gut so", sagt Professor Torsten Zuberbier, Leiter des Allergie-Zentrums an der Berliner Charité und der Europäischen Stiftung für Allergieforschung. Das Risiko, dass doch etwas in die Wurst gerät und dann eine allergische Reaktion auslöst, könne nie ganz ausgeschlossen werden.
Ein großer Markt
Etwa acht Prozent der Deutschen kämpfen mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten, sagt Professor Zuberbier, die nicht diagnostizierten Fälle schätzt er auf 35 Prozent. Ein Riesenmarkt also. Und ja, es gibt einige Firmen, die fertige Allergiker-Wurst anbieten, oft ist damit aber nur der Verzicht auf Nahrungsmittelchemie gemeint - die in gute Würste ohnehin nicht gehört. Und auf Zuruf und individuell produzieren, das macht nur der Tauscher aus Boddin.
Ist die Wurst fertig, probiert erst der Meister, dann müssen seine Arbeiter ran. Gibt es keine Klagen, geht die Wurst raus. Das alles hat seinen Preis, aber wirklich teuer ist es nicht. "Bei mir kostet die Allergiker-Wurst vielleicht 20 Prozent mehr als die normale Wurst bei irgendeinem Schlachter", sagt Tauscher.
Martina Reinelt hat das nächste Paket Tauscher-Wurst schon bestellt. Warum geht sie nicht einfach zu einem Schlachter in der Nähe? "Weil nicht einer von denen, die ich gefragt habe, sich die Mühe machen wollte oder konnte. Und ich habe viele gefragt." Bis eine Bekannte ihr den Tipp mit Tauscher gab. Der Schlachter in Boddin nimmt das alles gelassen. Der Forscher in ihm kann es kaum erwarten. Neue schwere Fälle bedeuten Neuland. Und vor allem: viele schöne Experimente.