Deutsche Wissenschaftler "Kampf der Kulturen" nicht in Sicht

Die heftigen Gefühlsausbrüche der Muslime wegen der Mohammed-Karikaturen haben auch die deutschen Politikwissenschaftler überrascht. Von einem "Kampf der Kulturen" wollen sie aber nichts wissen.

Antiwestliche Demonstrationen quer durch die islamische Welt mit vielen Toten, verwüstete Botschaften und Kirchen - fassungslose Politiker und Bürger in Europa wähnen sich im "Kampf der Kulturen". Der heftige Gefühlsausbruch der Muslime hat auch deutsche Wissenschaftler überrascht. Das Schlagwort vom "Kampf der Kulturen" lehnen sie aber einhellig ab. Die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed war nach Ansicht von Politologen und Islamwissenschaftlern der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Doch die tieferen Ursachen für die Unruhen liegen ihrer Ansicht nach in dem jahrzehntelang aufgestautem Unmut der Bevölkerungen über ihre politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.

"Lunte an ganz alte Konflikte gelegt"

In der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung sei es vor allem wichtig, die politischen Konflikte in den Ländern zu benennen und zu differenzieren, sagt Prof. Dieter Senghaas. "Wir verlangen, dass dort differenziert von uns gesprochen wird. Aber das müssen wir umgekehrt auch tun", meint der Politologe von der Universität Bremen. "Die Karikaturen haben ohne Fragen einen Nerv berührt, die Menschen glauben, sie werden attackiert", beobachtet Prof. Gudrun Krämer, Islamwissenschaftlerin aus Berlin. Doch teilweise sei da eine "Lunte an ganz alte Konflikte gelegt worden" - zum Beispiel in Nigeria. "Die Proteste gehen nicht ins Kulturelle. In den meisten islamischen Ländern ist die Bevölkerung im politischen und wirtschaftlichen Bereich frustriert", meint auch Prof. Kai Hafez von der Universität Erfurt. Er kennt aktuelle Umfragen, nach denen die kulturelle Öffnung für westliche Ideen gerade in Ägypten oder Iran groß ist.

Sie meinen, dass vor allem islamistische Gruppierungen die Proteste schüren. Denn: "Die Mehrheit derer, die auf die Straße gehen, hat doch die Karikaturen nie gesehen." Dagegen hätten die Islamisten in Syrien oder im Gaza-Streifen zum Beispiel ein großes Interesse daran, sich im lokalen Machtkampf zu profilieren. "Auch gegenüber dem Westen positionieren sich jetzt islamistische Organisationen", betont Krämer. Von Seiten der Bevölkerung dagegen richte sich der Protest meist gegen die eigene Regierung, die sich "vom Westen gängeln lässt".

Anschluss an die Moderne verpasst

"Die Mobilisierungskraft der Islamisten ist schon groß, aber sie nutzen westliche Medien, um ihre eigene Meinungsführerschaft zu demonstrieren", beobachtet auch Hafez. Seinen Recherchen zufolge ist das Medienecho in der arabischen Welt auf den Karikaturen-Streit "gedämpfter, als es bei uns erscheint". An den Protesten seien "keine Bevölkerungsmassen" beteiligt. "Es handelt sich um einige hundert Menschen zum Beispiel in Indonesien." Hafez hält es für eine große Gefahr, dass sich der Westen derart auf Fernsehbilder fokussiere. Die Proteste müssten vor allem als politische Demonstrationen gewertet werden: "Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Nahe und Mittlere Osten vom Westen in Abhängigkeit gehalten."

Hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis für die Probleme in der arabischen Welt: Diese Länder haben laut Senghaas bislang den Anschluss an die Moderne in jeder Hinsicht verpasst. Die Menschen fühlten sich als "Verlierer", erläutert Krämer. "Dort herrschen Auseinandersetzungen vor, die es immer gibt, wenn Gesellschaften in der Entwicklungskrise sind", analysiert Senghaas, der als Begründer der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland gilt. "Es gibt in der Region heute kein Beispiel für erfolgreiche Entwicklungsprozesse." Einen Kulturkonflikt mit dem Westen kann er jedoch nicht erkennen. Die arabisch-islamischen Länder hätten die inneren Probleme, die "wir schon durchgefochten haben, bei uns gab es deswegen Religionskriege".

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Religion für politische Zwecke instrumentalisiert

Der Islam ist nach Ansicht von Wissenschaftlern in der gegwärtigen Diskussion noch das geringste Problem. "Ich sehe überhaupt keinen Religionskonflikt. Aber Religion ist immer für politische Zwecke instrumentalisiert worden", bemerkt auch Senghaas' Kollege, Prof. Klaus-Jürgen Gantzel von Universität Hamburg. Theologen weisen auf die großen Fortschritte im Dialog zwischen Christentum und Islam in den vergangenen zwei Jahrzehnten hin. "In Metropolen gehört Dialog heute zum Alltag. Gerade die muslimische Seite hat auf Begegnung gesetzt", betont Johannes Frühbauer, Theologe von der "Stiftung Weltethos", die von Prof. Hans Küng gegründet wurde.

Dem Konflikt die Schärfe nehmen

Auch die Vereinbarkeit von Demokratie und Menschenrechten mit dem Islam streitet kaum ein seriöser Gesprächspartner noch ab. "Der Islam hat in den letzten zehn Jahren enorme Anstrengungen unternommen, ein Bekenntnis zur Demokratie abzulegen", sagt Frühbauer. "Religiöse Extremisten haben sich bislang nirgendwo auf der Welt als Hüter menschlicher Grundwerte profiliert. Religionen sind nicht deckungsgleich, aber in den essentiellen Wertvorstellungen vermag ich keine gravierenden Differenzen zwischen Islam und Christentum erkennen", erläutert auch der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfus in einem Interview mit dem "Spiegel".

"Der Dialog muss an der richtigen Stelle ansetzen", betont Hafez. Er wünscht sich eine völlig neue Nahostpolitik aus Europa: "Wie damals die Ostpolitik von Willy Brand, so brauchen wir auch heute eine grundlegend andere Entspannungspolitik." Dem pflichtet auch Krämer bei. "Wenn politische Regelungen gefunden werden, die nahöstliche Wünsche berücksichtigen, würde das dem ganzen Konflikt die Schärfe nehmen", sagt sie.

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Claudia Utermann/DPA