Die 68er Das große Lüften

Nirgendwo haben die 68er so deutliche Spuren hinterlassen wie in Bildung Und Erziehung. Nazi-Professoren verschwanden aus den Unis, Drill und Rohrstock aus den Schulen und Kindergärten. Aber sind die Revoluzzer heute mit dem Ergebnis zufrieden?

An dem Tag, an dem sie Deutschland veränderten, wirkten die beiden Revolutionäre ungefähr so gefährlich wie Konfirmanden. Schmächtige Jungs in Anzug und Krawatte. Die Schuhe gewienert. Die Haare gescheitelt. Die Gesichter blass. Die Hände zitterten. "Hätten wir geahnt, dass man noch Jahrzehnte darüber reden würde, wir wären viel zu angespannt gewesen, um das durchzuziehen", sagt Detlev Albers. 9. November 1967, fast auf den Tag genau vor 40 Jahren. Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer, die früheren Asta Vorsitzenden der Uni Hamburg, drängen sich mit den rund 2000 Gästen ins Audimax zur feierlichen Begrüßung des neuen Rektors. Die beiden sind vorbereitet. Am Abend zuvor haben sie in Behlmers Wohnung gebastelt. Behlmer schnitt weiße Buchstaben aus und klebte sie auf ein schwarzes Tuch. Ein ganz besonderer Stoff. Er hatte als Trauerflor für den wenige Monate zuvor getöteten Benno Ohnesorg gedient. "Mit bibbernden Knien" stehen die beiden nun im Audimax. Albers hat das Tuch zusammengefaltet unter der Anzugjacke. Beim Einzug der Ordinarien springen sie hervor und halten ihr Transparent vor die Magnifizenzen: "Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren". Pfiffe, Buhrufe, Tumulte. Ein Agenturfotograf schießt ein Bild.

1000 Jahre, damit war das 1000-jährige Reich der Nazis gemeint. Eine Zeit, in der viele der anwesenden Professoren bereits treu als Hochschullehrer gedient hatten. Und die noch in so manchem Akademikerhirn weiterlebte. Professor Bertold Spuler brüllte: "Ihr gehört alle ins KZ." Zwei Studenten mit Transparent im Audimax - ein solcher Auftritt wäre heute schon auf dem Weg zur Mensa vergessen. Vor 40 Jahren machte er Geschichte. Das Foto von Albers und Behlmer wurde - zusammen mit dem Bild des sterbenden Benno Ohnesorg - zu so etwas wie dem Logo des Studentenaufstandes. Ihr Spruch war der perfekte Slogan für eine Bewegung, die sich längst nicht mehr bremsen ließ. Schon wenige Tage nach der Aktion konnte der erste, kleine Erfolg vermeldet werden: Professor Spuler wurde seines Amtes enthoben. Dann ging es Schlag auf Schlag. 1969 trat schließlich in Hamburg ein neues Hochschulgesetz in Kraft. Die Uni wurde demokratisiert. Die alte, verkrustete Ordinarien-Universität war Geschichte.

Bildung ist das eigentliche Vermächtnis von 68

Kaum irgendwo haben die 68er so deutliche Spuren hinterlassen wie im Bildungssystem. Die Veränderungen in der Gesellschaft, in der Mode, der Musik, der Sexualität, in der Politik oder in der Art des Umgangs miteinander, sie sind eher kultureller Natur, schwer zu fassen, kaum messbar. Anders in Kindergärten, Schulen und Universitäten. Nach wenigen Jahren Revolte waren die gesamten Institutionen der staatlichen Bildung und Erziehung kaum wiederzuerkennen. Dort gab es echte, konkrete Reformen. Darum ist die Bildung das eigentliche Vermächtnis von 68. Die Umwälzungen waren so gründlich, dass die Erinnerung an die Verhältnisse davor verblasst ist. Wer jünger ist als 50 Jahre, vermag sich kaum vorzustellen, wie beispielsweise das Studium an einer Hochschule im Jahre 1968 aussah. Studenten sprachen einander mit "Herr Kommilitone" an und siezten sich. Frauen gab es nur wenige. Gerade mal ein Viertel der Studierenden war weiblich und das Studium eine elitäre Angelegenheit. Nur jeder Zehnte ging zur Uni. Behlmer stammt aus einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Als Einziger des Ortes durfte er studieren.

Albers und Behlmer waren brave Revoluzzer, beide Mitglieder in der SPD. Behlmer war vor dem Studium sogar Oberleutnant bei der Bundeswehr. "Verglichen mit der Universität war das ein lockerer, aufgeklärter Haufen", sagt er. Mit den Generälen konnte er reden, mitunter sogar über ihre Zeit in der Wehrmacht. "Einen Professor dagegen konnte ein Student nicht mal ansprechen. Die verkündeten die Wahrheit vom Katheder, und Ende." Dabei wollten die Studenten vor allem reden. Zum Beispiel über den großen, deutschen Philosophen Ernst Cassirer, Professor und zeitweilig Rektor der Hamburger Universität. 1933 wurde er entlassen, zusammen mit 16 Prozent aller Hochschullehrer. Sie waren Juden. "Wir wollten mit denen über Cassirer reden", sagt Albers. "Aber die haben sich jedem Gespräch verweigert." Zu Anfang konnten die Studentenvertreter sich eine vollkommen andere Universität kaum vorstellen. Ihre Forderungen waren bescheiden. Als Asta-Vorsitzende hatten sie das Recht, bei den Sitzungen des akademischen Senats am Katzentisch zu sitzen und gehört zu werden, wenn es um studentische Angelegenheiten ging, selbstverständlich ohne jedes Stimmrecht.

Talare verschwanden ins Museum

Ihre Forderung lautete nun: Ein solches Anwesenheitsrecht wollten sie künftig auch bei Sitzungen auf Fakultätsebene. Von wirklicher Mitbestimmung war erst mal nicht die Rede. "Aber die haben das nicht mal abgelehnt. Die haben das schlicht ignoriert", sagt Albers. "Erst daraufhin haben wir uns dann ganz grundsätzlich gefragt, wie die Universität in der Demokratie künftig aussehen sollte." Albers schrieb schließlich ein Konzept für die Gruppenuniversität, das schnell zur gemeinsamen Forderung der gesamten Studentenbewegung wurde. Und zur Blaupause einer neuen Uni. Noch als Studenten gehörten Albers und Behlmer zum Gründungssenat der Universität in Bremen. Schon 1971 begann der Studienbetrieb. Albers wurde Professor für Politikwissenschaft in Bremen, an der Uni, die er mitgründete. Viele Jahre war er Bremer Landesvorsitzender der SPD und gehörte dem Bundesvorstand der Partei an. Behlmer blieb in Hamburg, machte eine Karriere in der Verwaltung und stieg auf zum Staatsrat der Staatskanzlei und der Kulturbehörde. Er ist im Ruhestand. Albers ist nächstes Jahr dran.

Die 68er-Bewegung war ein Aufstand der Studenten. Der Rest der Gesellschaft schaute zu. Kein Wunder, dass die Studenten mit dem Verändern in ihrer eigenen Umwelt, der Hochschule, begannen. Die autoritäre, elitäre, noch immer von den Personen und den Gedanken des Nationalsozialismus beherrschte Ordinarien-Universität war in einer freien, demokratischen Gesellschaft nicht überlebensfähig. Schnell und ohne großen Widerstand brach das verrottete System in sich zusammen. Das notwendige Personal für den Neuanfang stellten die Studenten einfach selbst. Großzügig wurden die Lehrstühle unter dem akademischen Nachwuchs verteilt. Der Marsch durch die Institutionen wurde zuerst ein Marsch in die Hochschulen. Die Talare verschwanden ins Museum, Studenten und Professoren ließen sich Bärte wachsen, trugen selbst gestrickte Pullover. Heute kritisieren die Studenten ganz selbstverständlich ihre Professoren. Umgekehrt sind die Hemmungen oft größer.

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Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer haben sich seit jenem Tag im Audimax nicht mehr aus den Augen gelassen. Sie wurden Freunde fürs Leben. Und noch immer ist die Uni eines ihrer liebsten Themen. Sind sie zufrieden mit dem Erreichten? Lange schauen sie sich an. "Unsere wichtigste Forderung, unsere Vision war doch: Bildung für alle", sagt schließlich Behlmer. Und Albers ergänzt: "Da sind wir heute einen großen Schritt weiter. Aber Entscheidendes fehlt noch immer." Heute beginnen in Deutschland etwa 35 Prozent eines Jahrgangs ein Studium. Der Anteil ist damit gut dreimal so hoch wie vor 40 Jahren. Hört sich gut an. Doch im Durchschnitt der OECD-Länder studieren heute bereits 51 Prozent der jungen Leute. In den USA 64, in Finnland 71, in Australien sogar 77 Prozent. Deutschland hat also einiges erreicht, doch andere Länder viel, viel mehr. Andreas Schleicher, Bildungsforscher und Koordinator der Pisa-Studie, sagt: "In den vergangenen 20 Jahren hat Deutschland an der internationalen Entwicklung der Bildungsexpansion praktisch nicht teilgenommen."

Alles war erlaubt. Alles war gut

Vor allem die unteren sozialen Schichten werden im deutschen Bildungssystem weiterhin dramatisch benachteiligt, stärker als in anderen Industrieländern, die in der OECD organisiert sind. Professor Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, sagt: "Das Vorhaben, die sogenannten Arbeiterkinder an die Uni zu bekommen, ist gescheitert." Tatsächlich besuchen heute 83 Prozent aller Akademikerkinder eine Universität, aber nur 23 Prozent der Kinder von Nichtakademikern. Die Reformen, die Albers, Behlmer und ihre Generation angefangen haben, sind in Deutschland also nicht zu weit gegangen, im Gegenteil: Bei ihrem wichtigsten Ziel, der Chancengerechtigkeit, sind sie nicht annähernd weit genug gekommen. Auf halber Strecke sind die Kräfte erlahmt. Der Zeitpunkt lässt sich ziemlich exakt festlegen: Mitte der 70er Jahre. Da hatten ein paar wenige Studentenführer und jede Menge Mitläufer schließlich auf Lehrstühlen Platz genommen. Von dem Moment an war Schluss mit dem Projekt Bildung für alle. Bis dahin, ein knappes Jahrzehnt, hatte die Generation 68 für mehr Studienplätze, Schulneubauten, mehr Lehrerstellen gestritten. Ihr Engagement lässt sich gut an den Bildungsausgaben ablesen. Bis Mitte der Siebziger stiegen sie kontinuierlich. Danach nicht mehr. Seitdem, seit etwa 30 Jahren, gibt Deutschland weniger für Bildung aus als der Schnitt der OECD-Länder.

In der Bildungspolitik waren die 68er-Studenten erfolgreiche Abrissunternehmer. Sie walzten platt und räumten weg, was ohnehin längst nicht mehr tragfähig war. Doch Architekten waren sie nicht. Die alten Qualitätsmaßstäbe konnten nicht mehr weiter gelten. So viel war klar. Doch was trat an ihre Stelle? Vor allem in den Geisteswissenschaften entwickelte sich eine Art antiautoritäre Wissenschaft. Objektive Bewertungskriterien gab es nicht mehr. Alles war erlaubt. Alles war gut. Und alle wurden mit "gut" benotet. Detlev Albers sagt: "Wir waren überzeugt: Wenn die Uni erst demokratisch organisiert ist, wird die Qualität von Forschung und Lehre schon folgen." Doch sie folgte nicht. Schonungslos und regelmäßig reiben Studien zum internationalen Vergleich der Bildungssysteme den deutschen Hochschulen immer wieder ihr stetes Abrutschen von der Zweit- in die Drittklassigkeit unter die Nase. Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind die deutschen Universitäten heute nicht mehr in der Spitzengruppe. Nur in zwei akademischen Disziplinen ist Deutschland noch vorn: Bei der Studiendauer und beim Anteil derer, die ihr Studium nicht schaffen und ohne Abschluss abbrechen.

"Was die unter Erziehung verstanden, ist heute unvorstellbar"

Maßstäbe, Wertung, Regeln - das gehörte nicht nur nicht an die Uni. Das hatte nach Ansicht der 68er in der Entwicklung von Menschen generell nichts zu suchen, je jünger, umso weniger. Nicht nur im Bildungssystem, erst recht nicht bei der Erziehung. Kinder sollten "frei" aufwachsen, ohne Regeln, ohne Verbote und vor allem ohne Autoritäten: antiautoritär. Darum mussten antiautoritäre Kindergärten her. Den ersten gab es natürlich in Berlin, genauer an der Technischen Universität. Im Frühjahr 1968 traf sich die Bewegung dort zu einem mehrtägigen Vietnamkongress. Die Männer diskutierten über Krieg und Frieden, die Frauen kochten Kaffee und - sofern sie Mütter waren - hüteten die Kinder. Plätze in öffentlichen Kindergärten waren knapp. Wie heute. Und teuer. Wie heute. Und Mütter, die kleine Kinder in die Krippe gaben, galten als Rabenmütter. Wie mitunter heute noch. Um dennoch gegen den Vietnamkrieg protestieren zu können, gründeten die Mütter den ersten unabhängigen Kindergarten. Nach dem Kongress wurden überall in Berlin solche unabhängigen Kindergärten gegründet. Meist taten sich Eltern zusammen, mieteten einen der vielen leer stehenden Läden und machten daraus Kinderläden (Kila). Geld war dabei kein so großes Problem. Schließlich gehörten die meisten Studenten einer Schicht an, für die damals schon ein Skiurlaub oder ein eigenes Auto selbstverständlich war.

"Der erste Kinderladen war vor allem auch eine Reaktion auf die damaligen Kindergärten. Was die unter Erziehung verstanden, ist heute unvorstellbar", sagt Marianne Janitzki. Die Fotografiestudentin hatte einen kleinen Sohn, Igor. "Im Kindergarten bekam der laufend Ohrfeigen. Einfach so." Anderen Kindern wurden Pflaster über den Mund geklebt, wenn sie ungezogene Worte sagten. In der Ecke stehen war eine beliebte Strafe. Zum Mittagsschlaf wurden unruhige Kinder im Bettchen festgebunden. Die Hamburger Psychologin Anne-Marie Tausch hatte 1969 in einer Studie nachgewiesen: 82 Prozent dessen, was staatliche Kindergärtnerinnen zu ihren Schützlingen sagten, waren Befehle wie: "Sitz still!", "Putz die Nase!", "Halt den Mund!" Während die männlichen Studenten unter den Talaren durchlüfteten, bekämpften ihre Frauen und Freundinnen - die Mütter ihrer Kinder - denselben Muff in den Kindergärten. Genauso wie die Unis mit ihren Nazi-Professoren waren auch die staatlichen Kinderdrillanstalten nicht mehr tragbar. Die Mütter lasen A. S. Neills Buch über "Summerhill". Die Bibel der antiautoritären Erziehung wurde zum absoluten Bestseller.

Kinder sollten ihre Regeln selbst erfinden

Marianne Janitzki und ihre Freundin Gisela Hengstenberg fanden gleich neben dem Bahnhof Zoo eine riesige Wohnung, ideal für "Charlottenburg I", einen der allerersten antiautoritären Kinderläden Berlins. Dort sagte niemand: "Sitz still!" Der Kinderladen war eine verbotsfreie Zone. Mit Fingerfarben schmieren, nackt rumlaufen, mit vier noch in die Windeln kacken, das Mittagessen anderen in die Haare schmieren - alles erlaubt. Die Kinder sollten ihre Regeln selbst erfinden. Nackte, ungezogene Kinder waren eine Provokation für die meisten Eltern, deren Erziehungsziele noch immer Ordnung, Sauberkeit und Gehorsam waren, eine Provokation für eine Gesellschaft, die fest auf einem Boden stand, von dem man essen konnte. Der stern widmete dieser Sensation im Frühjahr 1969 eine Titelgeschichte: "Kleine Linke mit großen Rechten." Darin wurde beschrieben, wie der Nachwuchs der Revolutionäre Passanten die Zunge herausstreckte und Polizisten fragte: "Bist du ein böser Bulle?" Sofort nach Erscheinen des Heftes packten die wütenden Kila-Eltern ihre Kinder, stürmten das damalige Berliner stern-Büro und demolierten es.

Eigentlich sollte es ein "piss-in" werden, bei dem die Kinder auf den Teppich pinkeln. Doch die gehorchten den Anweisungen der Eltern nicht. Antiautoritäre Erziehung eben. Das pädagogische Konzept der Kinderläden war nicht, die Kinder einfach machen zu lassen. Die Eltern sollten sich nicht weniger, sondern mehr um ihre Kinder kümmern, regelmäßig im Kila kochen, spielen und einfach anwesend sein. Zusätzlich trafen sich die Eltern ein-, zweimal die Woche, um alles auszudiskutieren. "Das war unglaublich nervig", sagt Gerd Conradt, dessen Tochter Alfa eines der jüngsten Kinder im Kila war. "Laufend gab's Krach. Dein Kind schlägt mein Kind. Bei euch in der Beziehung stimmt was nicht. Da müssen wir mal drüber reden. Das ging immer ans Eingemachte." Der Kila Charlottenburg I lag um die Ecke der Wohngemeinschaft Kommune II (KII). Deren Kinder gingen bald auch in den neuen Kinderladen. Die KII war eine der Keimzellen der späteren RAF. Zwei Jahre lebte dort Jan-Carl Raspe. 1969 wurde ein neuer Erzieher eingestellt: Manfred Grashof. Er hatte keine Ausbildung und keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern, aber er hatte die richtige Gesinnung. Ein Bundeswehrdeserteur, der in West-Berlin eine Bleibe und einen Job brauchte. Der Kinderladen schuf eine Stelle für Grashof. Im März 1972 erschoss er den Polizisten Hans Eckhardt, Leiter der Soko "Baader/Meinhof ".

Kiffer-Kränzchen am Nachmittag

"Die Männer der KII dominierten den Kila immer mehr. Als einzelne Mutter konnte man sich gegen die nicht wehren", sagt Marianne Janitzki. Die Erziehung orientierte sich immer weniger am Wohl der Kinder. Sie wurde zum Ausdruck politischen Handelns. Die Kinder mussten die Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht nur mit der Politik teilen. Auf ihrem Selbstfindungstrip probierte die Generation 68 einen rundum neuen Lebensstil aus. Das antiautoritäre Projekt, die kleinen Söhne und Töchter wurden dabei zur Nebensache. Viel prickelnder als lärmende, fordernde Kinder waren die Revolution, die freie Liebe und vor allem Drogen. Nachmittags trafen sich die Mütter zum Kiffer-Kränzchen. "Ich glaube, ich war so ziemlich die einzige Mutter, die nicht ständig zugedröhnt war", sagt Marianne Janitzki. Die Kinder verwahrlosten. "Im Winter liefen viele ohne Socken in den Schuhen rum." Ständig musste Janitzki im Kila beim Kochen aushelfen, weil die Eltern, die Dienst hatten, nicht erschienen waren. Die Kinder durften entscheiden, wo sie die Nacht verbringen wollten. Folglich war bei Janitzkis meistens volles Haus, weil es dort zuverlässig eine warme Mahlzeit gab.

Praktisch alle Ehen oder Beziehungen der Eltern von Charlottenburg I gingen in dieser Zeit auseinander. Alle probierten die freie Liebe aus. Aber keiner hatte Erfahrung, was das für Folgen hat. "Eigentlich haben wir uns immer geliebt. Aber irgendwann war zu viel passiert. Da konnten wir nicht mehr zurück", sagt Gerd Conradt. Er trennte sich von seiner Frau Lena und von seiner Tochter Alfa und ging nach München. Alfa hat an diese Zeit, an ihre Kindheit, praktische keine Erinnerung. "Ich muss damals in Frankfurt, Darmstadt und auch in München gelebt haben. Aber ich weiß es nicht. Und ich kann niemanden fragen." Nur an Berlin hat sie starke Erinnerungen, an das Familienleben bei den Schilys. Denn Jenny, die Tochter von Otto Schily, wohnte in der Nähe und war viele Jahre so etwas wie Alfas Wahlschwester. In dieser Zeit reiste Lena Conradt, Alfas Mutter, mit dem Kommunarden Dieter Kunzelmann nach Jordanien, um sich militärisch ausbilden zu lassen. Wo Alfa in dieser Zeit war, weiß sie nicht. "Irgendwo, bei fremden Leuten." Später, als Alfa bereits neun Jahre alt war, nahm Lena ihre Tochter mit nach Indien. Zusammen mit ihrem damaligen Freund wollte sie dort ein neues Leben beginnen. Und scheiterte. "Dann sagte sie mir: ‚Wir fahren jetzt zurück nach Deutschland, und da bringe ich mich um.‘" Dann fuhren sie nach Deutschland, und die Mutter brachte sich um.

Was aus den schlimmen Kindern wurde

Kinder, die so aufwachsen, müssen im Leben einfach scheitern. Glaubten jedenfalls alle. Der stern hat 1981, zwölf Jahre nach dem ersten Artikel, sämtliche Kinder aus der Kila-Reportage besucht und beschrieben, "was aus den schlimmen Kindern wurde". Und siehe da: Sie machten Lehren, gingen aufs Gymnasium, arbeiteten in der Schülerzeitung mit, wollten Tierärztin, Stahlbauschlosser oder Architekt werden. Igor Janitzki plante, Musiktherapie zu studieren. Alfa Conradt besuchte das Gymnasium und interessierte sich nur mäßig für Politik. Es war ein Zwischenbericht über das Leben ganz normaler Teenager. Heute, fast 40 Jahre nach der Gründung von Charlottenburg I, sind die meisten Kinder selbst Eltern. Alfa Conradt hat im November ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen Sohn. Sie wird ihn nicht antiautoritär erziehen. "Regeln haben einfach Sinn. Sonst kriegt man nichts geregelt." Wie sie es nicht machen will, das weiß sie. Aber wie dann? "Ich muss mir alles aus Büchern beibringen. An meine eigene Kindheit habe ich ja kaum Erinnerung. Die ganze Erziehung ist bei mir ein großes Loch." Sie ist Filmemacherin geworden - wie ihr Vater - und hat einen sehr bewegenden Film über den Selbstmord ihrer Mutter gedreht ("Mutterkind"). Ihr nächstes Projekt könnte ein Film über jene Kinder sein, mit denen sie einst im Kinderladen war.

Derzeit recherchiert sie, wer wo wie lebt. "Das allein ist spannend." Sie leben verstreut in ganz Deutschland, in Doppelhaushälften, Villen oder Mietwohnungen im Wedding. Sie sind Ärzte, Sozialpädagogen, Künstler, Schauspielerinnen, Hausfrauen oder führen das Familienunternehmen in der x-ten Generation weiter. "Aus uns ist genau das nicht geworden, was viele vorhergesagt haben", sagt Igor Janitzki. Er hat nie Musiktherapie studiert, sondern in Berlin eine kleine Firma gegründet, die Holzfußböden abschleift. Der Sohn der Kinderladen-Gründerin wurde Unternehmer und Arbeitgeber von zwölf Beschäftigten. "Ich habe wirklich noch nie jemanden getroffen, der eine so positive Erinnerung an seine frühe Kindheit hat wie ich", sagt Igor Janitzki, der Junge, dessen Mutter immer da war, nicht zugedröhnt war und bei dem zu Hause die Freunde übernachten wollten. Heute hat er einen Sohn im Kindergartenalter. "Gerade eben hat er mir Joghurt in die Haare gekleckst. Das habe ich von der antiautoritären Erziehung." Er will, dass sein Sohn möglichst genauso aufwächst wie er selbst. Und natürlich schickt er ihn in einen Kinderladen. "Aber da gibt es für meinen Geschmack fast schon zu viele Regeln." Die Oma, Marianne Janitzki, sieht ihr Experiment von damals heute viel kritischer als ihr Sohn. "Ich würde nicht alles anders machen. Aber Regeln und Grenzen brauchen Kinder schon. Und bestimmen müssen die Eltern, nicht die Kinder."

Eine Ideologie voller Irrtümer

Marianne Janitzki, die frühere Fotografiestudentin, hat noch immer Kartons voller Bilder aus dem Kila Charlottenburg I. Sie zeigen den Alltag in der skandalösesten Erziehungseinrichtung der Bundesrepublik: tobende, lachende, manchmal nackte Kinder. In den Ecken sind Kissenberge aufgestapelt, auf den Fußboden haben die Kinder mit Kreide Straßen gemalt, um besser Autofahren spielen zu können. An den Wänden sind Abdrücke von Kinderhänden mit Fingerfarben. Man kann all die Fotos mehrmals durchsehen und wird die Sensation nicht finden. Weil sie nicht da ist. Alles sieht genauso aus wie in einem ganz normalen, bürgerlichen Kindergarten des Jahres 2007. Tobende Kinder sind heute ein Symbol für glückliche Kinder. Nackte Kinder sind kein Skandal mehr. Fingerfarben gehören zur Standardausrüstung jedes Kindergartens. Tischmanieren und Stubenreinheit sind auf der Prioritätenliste der Erziehungsziele nach hinten gerutscht. Ausser an den Universitäten haben die 68er die größten Veränderungen in den Kindergärten erreicht. Die ganze Methodik der Erziehung wurde um 180 Grad gedreht. Heute ist unbestritten, dass loben besser ist und nachhaltiger wirkt als strafen. Prügeln ist verboten. Die antiautoritäre Erziehung war eine Ideologie voller Irrtümer. Die Eltern aus den Kilas waren oft unreif und manchmal verantwortungslos. Die Kinder hatten viel auszuhalten. Und trotzdem: Der heutige Standard-Kindergarten ist dem antiautoritären Kinderladen von 1969 viel ähnlicher als dem staatlichen Kindergarten von 1969. Charlottenburg I hat sich durchgesetzt.

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